Die Brillenmacherin
»Ich glaube eher, Eure Gebete haben gewirkt.«
Ihre Gebete! Hatte sie überhaupt für Anne gebetet? »Sir Latimer wird viel mehr für seine Frau gebetet haben.«
»Hört zu, ich wollte Euch etwas fragen. Man hat mir gesagt, der Schütze, der durch das Fenster geschossen hat, ist Euer Bruder. Stimmt das?«
Sie zögerte.
»Er soll auch den Boten niedergestreckt haben am Montag.«
»Warum fragt Ihr?«
»Aus hundertfünfzig Yard Entfernung auf ein sich bewegendes Ziel zu schießen – das ist eine Meisterleistung. Auch das Fenster zu treffen war nicht leicht. Euer Bruder ist ein vortrefflicher Schütze. Nur hat er bisher auf die Falschen geschossen. Catherine, es ist so: Courtenays Türme sind nahezu fertiggestellt. Er wird morgen im ersten Tageslicht angreifen, ich weiß, wie so etwas läuft. Wenn ich ehrlich bin, wir haben keine guten Aussichten, seinen Angriff abzuwehren. Ich brauche Euren Bruder auf den Wällen.«
»Ihr meint, ich soll versuchen, ihn zu überzeugen, daß er für Sir Latimer kämpft?«
»Das sollte doch nicht schwer sein. Er erhält Sold so wie ich, nicht wahr? Mir ist es gleichgültig, warum der Erzbischof Latimer für einen Ketzer hält. Der Ritter bezahlt mich, also bin ich auf seiner Seite. Warum sollte Euer Bruder nicht die Seiten wechseln?«
»Alan hält die Sache des Erzbischofs für gerecht. Glaubt mir, ich habe schon versucht, mit ihm zu reden. Es bringt nichts.«
Der Captain schüttelte den Kopf. »Ihr habt mich nicht verstanden, fürchte ich. Ich muß wohl deutlicher werden. Wie es aussieht, werden wir in diesem Kampf unterliegen. Latimer konnte keinen Boten durchbringen, der Unterstützung geholt hätte. Und wenn ich ihn richtig verstanden habe, wird der Erzbischof keine Gefangenen machen. Er legt es darauf an, Braybrooke Castle vom Erdboden verschwinden zu lassen, |374| mitsamt den Menschen. Es geht hier also nicht darum, wessen Partei man ergreift. Sagt das Eurem Bruder. Es geht darum, ob wir morgen um diese Zeit noch leben oder nicht. Das betrifft Euch, Euer Kind, Euren Bruder, mich, alle hier. Ich denke, das ist Grund genug, die Seiten zu wechseln.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, kehrte er zum Schleifstein zurück.
Catherine stand da, als hätte sie der Blitz getroffen. Sie vermochte sich nicht zu rühren. Worüber hatte sie nachgedacht? Über Liebe? Über Ehebruch? Über Alan? Über Schuld? Hatte sie sich nicht gewünscht, daß alle starben? Wann war das gewesen, gestern? Was war mit Hawisia? Sie sollte morgen um diese Zeit nicht mehr leben. Warum konnten der Captain und die Männer Latimers die Türme nicht abwehren? Was sollte sie tun? Mit Alan reden?
Da brüllte der Captain vom Schleifstein herüber: »Geht, verflucht noch mal!« Er winkte sie herrisch zur Kellertür hin. »Redet mit ihm! Ich will seinen Bogen da oben auf der Mauer haben, zum Donnerwetter!«
Mechanisch setzte sie sich in Bewegung. Was sollte sie Alan sagen? Repton und Sligh saßen dort unten mit ihm. Repton, der wütend auf Latimer war, Sligh, der für Courtenay arbeitete und Elias getötet hatte. Ihre Gespräche würden nicht dazu beigetragen haben, Alans Meinung über Sir Latimer zu verbessern. Sie sollte sich zu ihm hinkauern und vor den anderen von Wahrheit sprechen? Vom richtigen Glauben? Alan würde sich nicht die Blöße geben, ihr überhaupt zuzuhören. Und selbst wenn, es war einfach, seine Entscheidung vorherzusagen: Er würde nicht auf Courtenays Männer schießen, nur um seine Haut zu retten. Nicht einen einzigen Pfeil.
Hawisia galt es zu retten, liebte Alan sie nicht auch? Vielleicht gelang es ihr, ihn so zu gewinnen.
Sie holte sich in der Küche eine Lampe, streichelte der schlafenden Kleinen noch einmal über das Gesicht, dann überquerte sie den Hof und stieg in den Keller hinab. Feuchte Luft schlug ihr entgegen, umwehte die Beine und kroch kühl in den Kragen. Sie schmeckte nach Steinstaub. Zwei Mäuse |375| jagten sich, gaben quietschende Laute von sich, huschten zwischen die Krüge. Stille. Der Luftzug hob weiße Schleier aus Staub und Spinnweben an, die von Weinfässern und Apfelkisten herabhingen.
Sligh, Repton und Alan starrten sie an. »Was bringst du uns?« fragte Sligh.
Sie beachtete ihn nicht. Elias’ Mörder sollte hier unten verrotten. Nicht einmal den Tod verdiente er, nein, das ging zu schnell. Er sollte seine Jahre in Ketten verdämmern.
Vor Alan ging sie in die Hocke, stellte die Lampe ab und sah ihn an. »Bruder, ich muß mit dir reden.«
Alan sah zu Repton,
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