Die Brillenmacherin
vor Furcht nicht fähig, sich zu bewegen, und hörte zu.
Nur einer bewegte sich: der Captain. Er stellte sich in die Mitte des Hofes und kommandierte: »Meine Männer zu mir!«
Da eilten sie die hölzernen Treppen des Walls herab, oben auf den Türmen verschwanden Köpfe, aus den Gruppen der Arbeitenden lösten sich einzelne. Der Captain wartete. Als hätte er es befohlen, stellte sich einer neben ihn mit einer Fackel, so daß er gut zu sehen war. Das Licht ließ die Narben in seinem Gesicht wie rote Würmer erscheinen; es warf lange Schatten und verwandelte den kleinen Mann in einen Riesen.
Seine Blicke wanderten über die Versammelten, bis der letzte hinzugetreten war. Dann griff er sich in das Lederwams und zog ein Pergament hervor. Er streckte es in die Höhe. »Seht ihr diesen Vertrag? So ist es üblich, mit Söldnerführern Vereinbarungen zu treffen. Man schreibt die Bedingungen doppelt auf und schneidet das Pergament mit einer Zickzacklinie entzwei. Jeder kann mit seiner Hälfte die Echtheit beweisen, denn wenn man die beiden Stücke aneinanderhält, ergeben sie ein Ganzes.«
Er hielt das Pergament in die Fackelflamme. Erschrocken zog der Lichtträger sie zurück, aber es war zu spät, der Vertrag brannte. Zufrieden betrachtete der Captain das brennende Schriftstück in seiner Hand. Dann warf er es zu Boden. »Wir brauchen diesen Vertrag nicht mehr. Wenn wir heute kämpfen, geht es nicht um Sold. Es geht um unser Leben. Mit einigen von euch habe ich in Frankreich gekämpft und in Italien. Ihr |384| wißt, daß ich keine Feigheit kenne. Ich sage euch: Heute geht es um unseren Hals. Ich will nicht einen von euch sehen, der zögert. Ich will nicht einen sehen, dessen Bolzen und Pfeile sein Ziel verfehlen, weil er unaufmerksam war. Ich will leben, verdammt, und ihr wollt es auch. Wollt ihr das? Wollt ihr leben?«
Die Männer brüllten eine Antwort.
»Also, geht auf eure Posten und liefert dem verruchten Erzbischof den besten Kampf, den er je gesehen hat! Er soll sich wundern, welche Schwierigkeiten ihm diese kleine Burg bereiten kann.«
»Ihr irrt Euch«, sagte eine tiefe Stimme in den Jubel der Männer hinein. Die Schützen und Waffenknechte des Captains verstummten. Von den Wehrgängen beugten sich Latimers Männer herunter, der Haufen der Zuhörenden wurde größer. Sir Thomas Latimer trat aus der Kapellentür. Das Rumpeln der Belagerungstürme näherte sich, er aber ging ruhig auf die Meute zu und wiederholte: »Ihr irrt Euch.« An seinem roten Waffenrock prangte das Kreuz, das auch auf den Fahnen der Burg zu sehen war; an Armen und Beinen glänzten Eisenschienen, man sah Einschläge, Beulen, ohne Zweifel, der Ritter stand dem Captain in Schlachterfahrung in nichts nach. Unter seinem Waffenrock wölbte sich der Plattenpanzer, er sah mächtig aus dadurch, unverwundbar. »Wenn Ihr heute kämpft, dann ist es nicht Euer Leben, das Ihr verteidigt. Es ist mehr. Ihr verteidigt England.«
Verblüffte Gesichter.
»Meint Ihr, der Erzbischof von Canterbury hätte es nötig, dieses winzige Braybrooke zu belagern, wenn es nur um mich ginge? Meint Ihr, da draußen würden Belagerungstürme heranrollen? Meint Ihr, William Courtenay hätte ein Ritterheer zusammengezogen, um den kleinen Friedensrichter Thomas Latimer zu fangen? Diese Schlacht, die wir heute austragen, hat nicht im geringsten etwas mit mir zu tun. Sie hat nichts mit Braybrooke zu tun und mit keinem der hier anwesenden Ritter. Es geht um England.«
|385| Die Männer warfen sich fragende Blicke zu.
»Heute entscheidet sich, ob Courtenays Vorstellung die Zukunft ist, in der Englands Geistlichkeit Macht ausübt, in der Englands Geistlichkeit darüber entscheidet, was das Volk von Gott erfährt, damit niemand ihr nachweisen kann, wie sehr sie ihre Aufgabe verfehlt, oder ob wir befreit werden zu einer persönlichen Beziehung zu Gott, jeder einzelne, von Mensch zu Schöpfer. Das ist der Grund, warum der Erzbischof Braybrooke fürchtet: Hier schläft die Waffe, die ihn aufhalten kann, die einzige Waffe, die England befreien kann von der Tyrannei der Kirche. Dort«, er zeigte auf die Kanzlei, »liegen Teile einer Bibelübersetzung. Andere Teile habe ich über das ganze Land verstreut. Wir werden Gottes Wort zurückbekommen, das Volk, die Laien, wir werden die Testamente lesen und erkennen, wo die Kirche vom Weg abgeirrt ist. In Courtenays Hand befindet sich der Mann, der dieses Werk beenden kann, Doktor Nicholas Hereford. Wenn wir heute gewinnen, soll er
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