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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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daß das ein Geschenk ist, und dich zufriedengeben damit?«
    »Begreifst du das nicht?«
    »Was?«
    »Du redest von einem Wohnturm, von ein paar Menschenleben, die verlängert oder verkürzt werden. Begreifst du nicht, daß wir an einem größeren Kampf beteiligt sind?«
    »Du bist wahnsinnig. Besinne dich, Thomas!«
    »Ich war nie so sehr Herr meiner Sinne wie jetzt. Wenn es Gottes Sache dienen würde, ich würde mich sofort von diesem Turm stürzen. Ich würde alles hergeben, um in dem größeren Kampf einen Schritt Land zu gewinnen.«
    »Thomas, hör mir zu, du solltest –«
    »Nein, höre du zu. Siehst du nicht, in welcher Zeit wir leben? Seit neun Jahren haben wir zwei Päpste, die sich um die Macht streiten. Unsere Priester schlafen in weichen Betten, während andere Männer aufstehen, um zu arbeiten, sie plappern die |396| Messe ohne Andacht und Hingabe, sie erfinden Wundergeschichten und vernachlässigen dabei, das wahre Wunder zu verkünden, nämlich Gottes Rettungstat, das Opfer seines eigenen Sohnes – ein Gott, der stirbt, damit wir leben, verstehst du nicht, William, wir leben in einer Zeit, in der die Wahrheit im Sumpf zu versinken droht, und wir haben die Aufgabe, das zu verhindern! Wie hat uns Wycliffe genannt?
Pugiles legis Dei
, Krieger des Gesetzes Gottes, die sind wir, William, wir sind sie! Wir sind die Ritter Christi, und ob wir unser Leben lassen oder nicht, das ist zweitrangig, wichtig ist, daß wir durch diese dunklen Zeiten das Licht hindurchtragen, daß wir die Wahrheit vor dem Untergang retten! Und deshalb ist es Zeit, daß die Bedeckten Ritter das Äußerste tun.«
    »Wovon sprichst du?«
    »Wir treten vor Seine Majestät, den König.«
    Nevill erbleichte. »Das ist ungefähr genauso dumm, wie es von Doktor Hereford dumm war, nach Rom zu gehen, um gegen seinen Ausschluß aus der Kirche zu protestieren. Wenn du zum König gehst, gehst du allein.«
    »Nein, William. Wir gehen zusammen. Die Bedeckten Ritter treten vor den König. Alle.«

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    |397| 36
    William Courtenay lehnte sich aus dem Fenster. Die Nacht schmeckte nach Wasser, der Wind blies ihm in das Gesicht wie ein nasses Tuch. Ruhe bewahren, sagte er sich. Du wirst dich nicht an Sligh vergreifen, das läßt du andere machen.
    Unter dem Haus auf der London Bridge gurgelte die Thames gegen einen Pfeiler an, umströmte ihn, klatschte Schaum gegen die Steine. Ein Bootswrack glänzte im Mondlicht. Jeder in London wußte es: Übermütige, die versuchten, unter der Brücke hindurchzufahren, kenterten und ertranken. Zu den Seiten der London Bridge herrschte reger Fährverkehr, die Ruderer machten ein gutes Geschäft damit, Reisende überzusetzen. Auch jetzt noch, in der Dunkelheit, fuhren sie. Er konnte ihre Laternen auf dem Wasser schaukeln sehen.
    Dabei war der Weg über die Brücke frei. Tagsüber war sie verstopft von Menschen, Pferdekarren, Eseln und den Auslagen der Händler, die ihre Läden im Erdgeschoß der Häuser hatten. Damit sich die Brückenbewohner nicht durch die Menge drängeln mußten, hatten sie in den oberen Stockwerken Laufplanken von Haus zu Haus gelegt; wo keine Planke war, balancierte man über die Stützbalken, die die Hausfronten verbanden. Ein Netz von Wegen, das sich schlecht überwachen ließ, dachte er.
    Er war nicht glücklich gewesen damals, als er in London lebte. Aber diese Brücke hatte er gemocht. Zwanzig gemauerte Bögen, und keine zwei Bögen einander gleich. Über dem neunten Bogen die Kirche zum Gedächtnis Thomas Beckets. Dort hinten die Zugbrücke und der Turm. Da hatten einst die Köpfe des Rebellen William Wallace und einiger seiner schottischen Getreuen auf Spießen gesteckt, eine beliebte Londoner Schauergeschichte, die jeder Besucher zu hören bekam. |398| Wie sehr wünschte er sich, Slighs Kopf dort auf einer Lanze zu sehen!
    Er duckte sich unter dem Fensterrahmen hindurch, sah ihn an. »Die Schlacht liegt keine vier Wochen zurück, und du sitzt hier und besäufst dich.«
    »Courtenay, wirklich, ich –«
    »Was ist das?« Er zeigte auf den Tisch.
    »Putenfleisch.«
    »Und das?«
    »Kalbspastete.«
    »Und das?«
    »Bitte, ich kann alles erklären!«
    Courtenay ballte die Hand zur Faust.
    »Ich bin nicht betrunken«, winselte Sligh. »Ehrlich, es war nur … Es sollte …«
    »Wo ist Doktor Hereford?«
    »In der Kammer. Er schläft.«
    Ein Zittern lief über seinen Nacken, als er die böse Ahnung in Worte kleidete: »Du hast den Brückenmeistern das Gold nicht gegeben.«
    »Das war

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