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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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schwieg.
    »Ich weiß. Für den Vogt bin ich trotzdem ein Habenichts. Einem Habenichts wird er May nicht zur Frau geben, da kann ich gleich auf Efeu pusten. Aber Jok, ich sage dir, es wird sich alles ändern. Wir fangen heute an. Der Vogt wird Augen machen.«
    Am Horizont schob sich Nottingham mit seinen Zinnen und Fahnen auf wie ein Gebirge.
    »Letzten Endes ist Mays Vater doch einer von uns. Er sitzt zwar in der Burg und sammelt für den Earl Abgaben und Steuern ein, aber deshalb müssen wir ihn nicht fürchten, Jok. Er hat genauso Erde unter den Fingernägeln wie ich. Vielleicht ist er sogar froh, einen tüchtigen Schwiegersohn zu gewinnen. Sicherlich. Er wird froh sein, meine Vorschläge zu hören.« Alan kürzte die Zügel. »Ho! Steh, alter Freund.« Noch bevor der Wagen hielt, sprang Alan von der Bank. Er kniete sich an den Wegrand und las Steine auf. Die kantigen warf er fort, die runden sammelte er in der Hand, bis er kaum noch die Finger schließen konnte. Er erhob sich, entleerte die Faust auf die Bank des Wagens und kauerte sich wieder nieder.
    Jok drehte den Kopf nach ihm um.
    »Ja, mein Bester, wir halten hier mitten auf dem Weg. Heute bin ich fröhlich, verstehst du? Mir ist nach einem kleinen Spiel zumute.« Mit erneut gefüllten Händen kletterte Alan zurück auf seinen Platz und rief: »Auf! Es geht weiter.«
    Ein Ruck ging durch den Wagen. Die hölzernen Räder knirschten.
    Alan umzäunte den Steinhaufen mit den Händen. »Siehst du den Holunder dort hinten? Und den Sproß, der daraus in die Höhe ragt wie ein Speer?« Er nahm einen Stein zwischen Daumen und Mittelfinger. Mit dem Zeigefinger strich er über seine Kante, als wollte er ihn beruhigen. Dann holte er aus und schleuderte den Stein in Richtung des Holunders. Er verfehlte ihn weit. »Schau dir das an!« Alan lachte. »Beim nächstenmal treffe ich.«
    |63| Er nahm einen weiteren Stein auf, zielte. Das Wurfgeschoß pfiff durch die Luft. Als es auf den Zweig traf, erzitterte der Holunderstrauch. »Treffer!«
    Jok schnaubte.
    »Der gelbe Mohn links am Wegrand. Siehst du die Blüte? Sorge dich nicht um deinen Kopf, ich werfe im Bogen, es ist zu weit entfernt für einen geraden Wurf.« Der Stein sauste in den Himmel und fiel wieder herab. Er zerschmetterte den gelben Farbtupfer im Gras. Alan rieb sich den Nacken. »Das ist allerdings erstaunlich. Habe nicht damit gerechnet, daß ich gleich treffen würde.«
    Die Stadtmauern näherten sich. Aus dem Tor quoll eine Schar Gänse, von einem Halbwüchsigen mit einer Haselrute getrieben. Alan fegte die restlichen Steine von der Bank und nahm die Zügel wieder auf. Vor dem Torbogen brachte er den Wagen zum Stehen. Ein Zöllner umrundete ihn und blickte von hinten auf die leere Ladefläche. Wortlos winkte er Alan, er solle weiterfahren.
    Der Schatten des steinernen Bogens verschlang Jok. Alan folgte auf dem Wagen. Mit dem wiederkehrenden Licht tauchten sie ein in die Welt Nottinghams. Joks Hufe klopften auf das Straßenpflaster. Es roch nach gebratenem Fett und menschlichen Ausdünstungen. Stimmen von überall her: johlende Kinder, Händler, die ihre Waren anpriesen, alte Männer im Gespräch, Frauenlachen. Ein Hund bellte. Jede Elle Raum war genutzt. Die Häuser standen dicht an dicht und bedrängten die schmalen Gassen. Sie rangen um Licht wie Bäume, verbreiterten sich nach oben hin, ein Stockwerk ragte über das andere hinaus.
    Eine Schar Kinder versperrte den Weg. Sie hatten im Abwasserkanal, der in der Mitte der Straße verlief, einen Damm aus Unrat errichtet, dessen Löcher sie nun mit Küchenabfällen stopften. »Wollt ihr ein Stück mit mir fahren?« rief Alan.
    Unter großem Hurra stürmte die Schar den Wagen.
    An jeder Straßenecke kamen neue Kinder hinzu: zerlumpte Jungen und Mädchen, die ihren Hunger niederjauchzten und |64| bei der Fahrt nach den Hüten und Kappen der Leute schlugen. Alan lachte mit ihnen. Nur die Zügel wollte er nicht hergeben, sosehr die Kinder auch bettelten. Es war schwierig genug, Jok neben dem Abwasserkanal zu halten und trotzdem keinen der Tische zu streifen, auf denen sich die Waren türmten.
    Vor dem Karmeliterkonvent in der Friar Lane brachte Alan den Wagen zum Stehen. »So, das war’s. Ich muß in die Burg hinauf, ich glaube nicht, daß ihr euch dort blicken lassen solltet.«
    Gehorsam sprangen die Kinder hinab. Ein Mönch kehrte vor der Tür des Konvents. Auf ihn stürzten sie sich, neckten, stießen ihn, zogen am weißen Skapulier, das auf Brust und Rücken

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