Die Brillenmacherin
derartig verschlagen, daß derjenige, der den ersten Schritt gegen ihn unternahm, mit dem Leben bezahlen würde.
Wer besaß genug Macht in Nottingham, um die anderen zum Schweigen zu bringen? Der Earl? Sicherlich. Dazu Kastellan Nevill, der Vertraute des Königs. Und Bailiff Trussebut.
Zwei Bailiffs führten Nottinghams Gerichte. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Stadt im Osten englisch war und |93| im Westen, bei der Burg, normannisch. Noch heute galt im Osten englisches Recht, und der jüngste Sohn einer Familie erbte das väterliche Gut, während im Westen französisches Recht herrschte und der älteste Sohn das väterliche Gut erhielt. Trussebut war Herr über das englische Nottingham, den kleineren, unbedeutenderen Teil der Stadt. Und doch überragten sein Ansehen und seine Macht die seines Amtsgefährten weit.
Das Morgenlicht strich rot über die getünchte Fassade des Trussebutschen Hauses. Schwarze Balken rahmten die Fenster ein, Fenster nicht aus Kuhhaut, sondern aus Glas, das die aufgehende Sonne spiegelte. Zwischen den Schmuckhauben auf dem Dachgiebel putzte eine Krähe ihr Gefieder.
Catherine wickelte den Dolch aus dem wollenen Lappen und schlug mit dem Knauf gegen die Tür.
Lange Zeit rührte sich nichts. Dann ein verschlafenes Gesicht: »Was willst du?«
»Ich glaube, das gehört deinem Herrn. Bringe es ihm.«
»Er wird fragen, wer du bist.«
»Catherine Rowe.«
Die Tür schloß sich, und hölzerne Sohlen pochten Treppenstufen hinauf.
Ein Heulen um die Hauswinkel, ein Seufzen und Rauschen. Wind fuhr Catherine über das Gesicht und schüttelte den Saum ihres Kleides. Es duftete nach frischgebackenem Brot. Ekel erfaßte Catherine. Sie atmete flach, ein tiefer Atemzug würde genügen, fürchtete sie, und sie würde sich erbrechen. Das, was ihr Leben lang zum Schmackhaftesten gehört hatte, das ihr Gaumen kosten durfte, verursachte plötzlich Brechreiz? Sie hatte gehört, daß schwangere Frauen mitunter Heißhunger entwickelten. Davon, daß sie ihre liebste Speise zu hassen lernten, hatte niemand gesprochen.
Sie hob den Arm vor das Gesicht. Der säuerliche Geruch der Haut verschaffte ihr Erleichterung.
Wieder Sohlenklopfen. Die Tür. »Bailiff Trussebut ist im Augenblick nicht abkömmlich. Er bittet darum, daß du ihn später aufsuchst.« Das verschlafene Gesicht war aufgewacht. |94| Über dem beiläufig nuschelnden Mund zuckten aufmerksame Augenbrauen.
»Gib mir den Dolch wieder.«
»Bedaure, den hat Bailiff Trussebut behalten.«
Sie maßen sich: kühl, berechnend.
»Er hat kein Recht dazu.«
»Hast du nicht behauptet, daß er ihm gehört?«
»Er hat ihn also als sein Eigentum erkannt?«
»Das hat er nicht gesagt. Er sagte: Ich behalte ihn hier, bis sie wiederkommt.«
Diese Dreistigkeit! »Der Bailiff unterschätzt mich.« Sie stieß den Diener beseite. Die Treppenstufen nahm sie in Paaren, und im oberen Geschoß brach sie in die Stube ein wie eine Sturmbö. »Bailiff Trussebut, Ihr meint, Ihr könnt mit mir spielen?«
Der Bailiff saß auf einem kurzbeinigen, niedrigen Stuhl, die Lehne vor dem Bauch. Er hielt einen Stab in der ausgestreckten Rechten, die Linke umklammerte eine Schale. Ein Fremder drückte ihm ein Messer in den rechten Arm. Blut troff von der Klinge in die Schale. Der Fremde stand auf dem Fuß Trussebuts, als wollte er ihn an der Flucht hindern.
Trussebuts Nasenflügel bebten. »Natürlich bekommt Ihr Euren Dolch wieder. Ich wollte ihn mir nur in der Zwischenzeit ein wenig ansehen. Wie Ihr unschwer erkennt, bin ich dazu nicht in der Lage zu dieser Stunde.«
»Ihr müßt wohl kaum lange hinsehen, um zu erkennen, ob es Euer Eigentum ist.«
»Mein Eigentum? Es ist ohne Zweifel ein Ritterdolch. Als Bailiff bin ich ein einflußreicher Bürger dieser Stadt, und die Familie Trussebut genießt seit Jahrhunderten höchstes Ansehen. Dennoch sind wir keine Ritter und nicht vermögend genug, uns goldgeschmückte Waffen zu kaufen. Wie kommt Ihr darauf, daß dieser Dolch mir gehören könnte?«
»Ich fand ihn bei Elias. Er hat doch für Euch gearbeitet?«
»Elias. Was meint Ihr, wie viele Menschen in dieser Stadt Elias heißen! Und wie viele für mich arbeiten!«
|95| »Der Brillenmacher.«
»Ah! Deshalb kam mir Euer Name bekannt vor. Rowe, richtig. Ihr seid die Witwe des verstorbenen Brillenmachers.«
»Davon habt Ihr gehört?«
»Er war der einzige weit und breit. Man spricht über so etwas. Sehr bedauerlich, daß dieser Meister uns verlorengegangen ist.«
So leicht
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