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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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würde sie nicht aufgeben. »Er hat mich gelehrt, Brillen zu machen. Darf ich Euch, wo ich schon mit dem Dolch irrte, meine Dienste anbieten?«
    Das Gesicht des Bailiffs zuckte. Täuschte er die Schmerzen nur vor, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen? »Guter Mann, genügt das nicht?« rief er. »Wollt Ihr mich verbluten lassen?«
    Der Gerügte blickte kalt auf den Arm herunter. »Haltet still. Euch verbleibt genügend Lebenssaft, sorgt Euch nicht darum.«
    »Also?« Catherine musterte Trussebut genau. War er nicht der Mörder, so würde er aus Furcht vor ihm versuchen, sie loszuwerden. Warum aber hatte er dann den Dolch behalten? Um ihn dem Mörder zu schicken?
    »Ihr seid also in der Lage, Linsen zu schleifen und mir daraus eine Brille anzufertigen, so wie Elias?«
    »So wie Elias. Ich habe bereits Sir Thomas Latimer zu bester Sicht verholfen. Ihr kennt ihn? Er beschützte vergangenes Jahr die Mutter des Königs.«
    »Ja, den Namen Latimer habe ich schon gehört. Aber ich besitze bereits eine Brille. Elias hat sie für meinen Vater angefertigt. Als er starb vor einem halben Jahr, hinterließ er mir das gute Stück.«
    »Verstehe.«
    »Dennoch, sie will für meine Augen nicht recht wirken, und ich –« Er brach ab.
    Im kalten Kamin fauchte es: Der Wind fing sich im Schornstein auf dem Dach. Leise tropfte das Blut des Bailiffs in die Schale.
    |96| »Meinetwegen. Macht mir eine Brille.«
    Sie würde das Straßenpflaster bezahlen können. Überhaupt, wenn man erst gesehen hatte, daß sie gute Brillen herstellte, würden weitere Aufträge kommen. Was Trussebut kaufte, gefiel plötzlich allen, die Geld hatten. Laurence würde nicht in die dunkle, kalte Kammer des Hungers und der Armut geboren werden, die sie in ihrer Kindheit bewohnt hatte. Sie würde ihn gut versorgen.
    Catherine wollte sich freuen. Sie wollte dem Bailiff danken und sich mit einer höflichen Verbeugung zurückziehen. Aber da lag der Dolch auf dem Fenstersims, da lag Elias auf dem Friedhof von Saint Mary’s, sie hatte zugesehen, wie sie ihn begruben, und es hatte ihr die Kehle zugeschnürt vor Sorge, weil sie wußte, daß er keine Luft schöpfen konnte unter der Erde. Der Bailiff ließ sie für sich arbeiten, obwohl er zu den Wissenden zu gehören schien. Er fürchtete den Mörder nicht.
    Das Heulen im Kamin erschien ihr plötzlich geisterhaft. Die weißen Vierecke, die die Glasfenster auf den Boden malten: Lichtgräber, ein Sonnenfriedhof. Der Diener lauerte in ihrem Rücken. Trussebut tropfte das Blut aus dem Arm. Und auf dem Fenstersims funkelte der Dolch wie ein lebendiges Wesen.
    »Nehmt ihn mit«, sagte der Bailiff. »Er gehört mir nicht.«
     
    Mit dem Fuß stieß sie die Tür auf. Der Werkstattgeruch begrüßte sie: geschmolzenes Glas, Schmirgelstaub und Holz. Aus einer Laune heraus ahmte sie Elias nach, hob dreimal die Füße, dann ließ sie, am Werktisch angekommen, die Sohlen über den Steinboden schleifen. Sie wickelte den Dolch nicht aus. Wie eine giftige Schlange packte sie ihn, die Finger gespreizt, und schob ihn hinter den Stapel von Holzplatten.
    Der Werkstattgeruch: geschmolzenes Glas, Schmirgelstaub und Holz.
    Geschmolzenes Glas, Schmirgelstaub und Holz. Und …
    Und Pferdehaare. Woher kam dieser Geruch?
    Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß jemand hinter ihr stand. Peitschenhiebe knallten unhörbar in der Luft, und ein heißer, |97| stechender Wind wehte durch Catherines Herz. Sie ahnte eine Berührung voraus, und sie fürchtete sie wie den Tod.
    Pferdehaare. Jemand war hier. Jemand näherte sich mit lautlosen Schritten und streckte die Hand nach ihrem Hals aus.
    Der Mörder.
    Sie mußte sich umdrehen, um Gewißheit zu haben. Aber sie tat es nicht. Sie hörte ihn atmen.
    Zu Hilfe! wollte sie rufen. Endlich brach ein Ächzen aus der Kehle. Es erstickte vor ihrem Gesicht.
    Flüstern: »Wenn du dich umdrehst, töte ich dich.«
    »Wer bist du?« hauchte sie.
    »Das weißt du wohl. Ich warne dich noch einmal. Ich werde nicht zögern, dich zu töten.«
    »Was willst du?«
    »Du spürst mir hinterher. Meinst du, das merke ich nicht? Du begehst einen Fehler.«
    »Den Fehler hast du begangen!«
    »Schweig! Du tappst im dunkeln und wagst es?« Das Wispern schwoll an. »Jeder Fehler kostet etwas, das solltest du wissen. Ich werde dich züchtigen, und du wirst von mir ablassen. Sage mir, wie du aus dem Glas die Linsen formst.« Flüstern, das über den Boden kroch und sich an ihr hinaufwand. Flüstern, das von den Wänden raschelte.
    »Sie

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