Die Brillenmacherin
hießen beide Thomas Latimer. Und doch konnte ihr Leben unterschiedlicher nicht sein.
»Großvater, was denkst du über das, was heute hier gesprochen wurde? Würdest du mich mit Schimpf und Schande aus Braybrooke fortjagen, wenn du noch am Leben wärst?« Die Vorstellung schmerzte ihn. »Es ist meine Verantwortung, nicht wahr? Ich muß den Menschen sagen, was ich als die Wahrheit erkannt habe. Als du lebtest, war es an der Zeit, mit Geoffrey auf die Jagd zu gehen und gegen die Schotten zu kämpfen. Heute, wo ich lebe, ist es an der Zeit, die Menschen an Gott zu erinnern. Versuche mich zu verstehen! Es ist meine Pflicht. ›Wenn die Jünger schweigen‹, sagte der Herr Jesus, ›so werden die Steine schreien.‹ Die Priester sind verstummt. Nun müssen wir reden, die Ritter, die Laien.«
Er sank vor dem Grab auf die Knie und bettete die Stirn an die harte Brust des Großvaters. »Nach all den Jahren habe ich |165| Anne heute das erste Mal geliebt. Ich habe sie angesehen, und wir haben uns verstanden, ohne zu sprechen. Ich habe mich gefreut, daß wir zusammengehören. Und ich hatte ein Verlangen danach, mit ihr zu reden und zu lachen, mit ihr zu essen, das Bett mit ihr zu teilen. Könnte es doch jeden Tag so sein!« Der Glaube trennte sie. Thomas konnte das deutlich spüren. Vielleicht hätte er jetzt den Mut, sie in ihrem Zimmer zu besuchen und freundlich zu bleiben, wenn sie ihn kühl abzuweisen versuchte. Aber er wußte, daß es zwecklos war, solange sie die Schlucht nicht überwanden, die ihre Gewissen voneinander trennte. »Der Preis ist zu hoch, Großvater! Ich kann die Unsterblichkeit nicht verkaufen, um Anne zu gewinnen, ich kann nicht Gott belügen. Ihm verdanke ich alles.«
Plötzlich ärgerte er sich. Anne hatte ihn verletzt, ja, so war es. Erst lächelte sie ihn an in der Kirche, und dann wies sie ihn ab – wie oft wollte sie das noch wiederholen, dieses kühle Fortstoßen, dieses spöttische Sich-über-ihn-Erheben? Sie verhielt sich nicht wie eine Ehefrau, überhaupt verhielt sie sich nicht wie eine Frau, die es verdiente, geliebt und verehrt und versorgt zu werden. Irgendwann war einfach der Zeitpunkt gekommen, an dem das Faß überlief. Jeden anderen hätte er längst zu seinem Feind erklärt. Es waren Beleidigungen, um derentwillen andernorts Blut floß. Sie griff seine Ehre an! Was war er für ein Schwächling, das zu erdulden?
»Du möchtest meine Feindin sein, Anne?« flüsterte er. »Nun, wie du willst.«
Geduldig und freundlich war er gewesen viele Jahre, ein Ehemann, wie man ihn sich wünschte. Sie verachtete ihn zum Lohn dafür. Mochte sie fortan die gleiche Verachtung erfahren! Er würde ihr zeigen, wie gut sie es gehabt hatte.
Zuerst würde er ihre Reisen unterbinden. Von heute an blieb sie in der Burg, ohne Ausnahmen. Und sie würde Arbeit bekommen, wie jeder andere seiner Dienstleute. Sollte sie Wolle spinnen und Tuch weben! Sollte sie es besticken, bis sie wunde Finger hatte. Sie würde der Liebe nachtrauern, die er ihr heute angeboten hatte. Sie würde ihren Stolz verfluchen.
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Catherine bohrte mit der Schere ein kleines Loch in den Vorhang und spähte hindurch. Sie hatte den ganzen Raum im Blick. Nun würde sie immer sehen können, was im Calefaktorium geschah, ohne daß die Augustiner ihre Neugier bemerkten. Es gab so viel zu lernen hier! Die Augustiner stellten Tinte her und bearbeiteten Tierhäute mit Bimssteinen, um darauf schreiben zu können. Sie fetteten ihre Schuhe ein und sprachen von den Ereignissen im Land. Weitgereiste Boten legten ihre Kleider zum Trocknen auf die Öfen. Selbst der Abt hielt sich von Zeit zu Zeit im Calefaktorium auf. Ob Courtenay das bedacht hatte, als er ihr den Platz für die Werkstatt verschaffte? Ob er erwartete, daß sie für ihn die Gespräche belauschte und ihm dann davon berichtete?
Er machte ihr beinahe täglich Geschenke. Mit diesem Raum hatte es begonnen. Auf seine Anweisung hin teilten die Augustiner das Ende ihres Calefaktoriums mit einem Vorhang ab und schafften Tische, einen Sitzschemel, Stroh für die Nacht und Talglichter hinein. Im Dormitorium teilte Alan eine Kammer mit zwei Pferdeknechten. Dort heizte man nicht – er fror jede Nacht. Das Calefaktorium jedoch wurde durch Öfen warm gehalten, deren Hitze in Hohlräume hinter seinen Wänden kroch. Wo man sich auch anlehnte, wo man sich auch setzte: Die Steine wärmten.
Courtenay schenkte ihr Werkzeug, Schleifschalen, Glas, Kleidung, eine Magd, die die Späne
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