Die Brillenmacherin
füllte das Kirchenschiff zwischen den bemalten Mauern bis zum letzten Winkel, nur vorn gab es freien Raum rings um den Grabdeckel von Thomas’ Großvater. Niemand schwatzte, niemand schlief. Mit glänzenden Augen hörten sie einem weißhaarigen Mann zu, der sich erdreistet hatte, sich anstelle des Priesters vor die Gläubigen zu stellen.
|158| »Eines Mannes Verstand sollte nicht weich sein wie Wachs, in das man ein Siegel hineindrückt«, sagte er, »sondern hart wie die Steine dieser Kirchenmauern. Ein Mann muß fähig sein, Entscheidungen zu fällen! Er kann Gottes Wort verstehen. Ihr könnt es, ihr selbst könnt beten und Gottes Willen erfahren!«
Thomas war hier. Er hatte sein Kettenhemd angelegt, als gäbe es etwas zu kämpfen, und stand in der ersten Reihe mitten unter den Bauern. Daß er sich nicht schämte! Sie bewunderten ihn, natürlich, die einfachen Menschen liebten es, wenn man sich ihnen gleichstellte. Das führte aber immer zur Rebellion, denn die Bauern und Handwerker verstanden es nicht, wenn man ihnen ihre Wünsche verweigerte, während man selbst im Wohlstand lebte. Sie verstanden es nur, solange man Abstand hielt und ihnen deutlich machte, daß es einen Unterschied gab zwischen denen, die anführten, und denen, die geführt wurden. Fünf Jahre lag der große Bauernaufstand erst zurück, und Thomas stellte sich mitten unter sie!
»Die Priester und die Ordensbrüder erzählen euch Fabeln«, erklärte der Alte, »um euch Moral zu lehren – aber die Bibel vernachlässigen sie. Sie berichten von Wundern, die im Zusammenhang mit Maria geschehen sein sollen – aber was über Jesus in Gottes Wort gesagt ist, darüber schweigen sie. Aus der klassischen Geschichte wissen sie zu zitieren, zugleich ist ihre Weisheit aber nicht auf Gottes Weisheit aufgebaut, denn das Wort, das er uns gab, ist ihnen nichts wert.«
Ein Bauer rief: »Was ist falsch an den Wundern? Willst du etwa sagen, Jesus sei nicht von einer Jungfrau geboren?«
»Keineswegs.« Der Alte hielt ein Buch in die Höhe. »Die Bibel berichtet das, und ich glaube ihr. Er ist Gottes Sohn. Ein normaler Mensch hätte nie tun können, was er tat. Maria gebar ihn, obwohl sie mit keinem Mann das Bett geteilt hatte.«
»Wenn dieses Wunder sich zugetragen hat, wieso sollen wir den anderen Wundern nicht glauben?«
»Begreift ihr es nicht? Daß sie Jungfrau war, steht in der Bibel. Die Priester und die Ordensbrüder aber erzählen euch andere, erfundene Geschichten, um Maria göttlich erscheinen |159| zu lassen. Sie sagen, eine Hebamme habe daran gezweifelt, daß Maria schwanger und doch unberührt sei, und als die Hebamme Maria bei der Geburt half und sie berührte, verdorrte ihre Hand. Erst als sie den neugeborenen Jesus anrührte, wurde sie wieder gesund. Wollt ihr wissen, weshalb dieses Wunder nie geschehen sein kann? Es gab keine Hebamme im Stall von Bethlehem. Die Bibel berichtet von keiner, und es war auch keine nötig, denn das Kind hatte Maria nicht krank gemacht. Dieses Kind war Gott! Es kam zur Welt, ohne Maria Schmerzen zu bereiten. Glaubt ihren Märchen nicht!«
»Ich habe gehört«, sagte ein anderer Bauer, »daß Ihr in Lutterworth gegen das Sakrament des Abendmahls gepredigt habt.«
»Ja, das ist wahr. Das Sakrament, das die Priester den wahren Körper Christi nennen, besitzt keine Augen zum Sehen, keine Ohren zum Hören, keine Zunge zum Sprechen, keine Hände zum Berühren, keine Füße zum Gehen. Es ist nichts als ein Kuchen aus Weizenmehl.«
Die Dörfler wichen zurück. Sie wisperten, bekreuzigten sich. Entsetzen stand ihnen im Gesicht geschrieben. Anne tastete nach der Tür. Was tat sie hier! Sie wohnte einer Teufelsmesse bei. Der Alte war ein falscher Apostel, er säte Zweifel an den Wundern, er griff die Priester und die Ordensbrüder an. Selbst vor der heiligen Maria schreckte er nicht zurück.
»Aber das Brot wird durch die Worte des Priesters in Christi Leib verwandelt«, sagte eine Frau.
»Überall im Land tun das die Priester, tausend Priester machen tausend Götter, und dann werden alle diese Götter gegessen und verdaut und in stinkende Kotgruben entlassen. Soll das die Wahrheit sein? Die Bibel lehrt es nicht!«
Man murmelte, man runzelte die Stirn. Niemand wußte etwas dagegen zu sagen.
»Seht mich an!« rief der Alte. »Ich war Professor der Heiligen Schrift in Oxford, ein angesehener Mann, um Rat gebeten von den Einflußreichen, bewundert von den Studenten, mit einer hervorragenden Bibliothek ausgestattet und
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