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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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von der |160| Kirche mit Freundlichkeit überschüttet. Denkt ihr, es ist mir leichtgefallen, das aufzugeben? Ich habe es getan.« Er senkte die Stimme. »Für die Wahrheit. Für die Wahrheit allein.«
    Es wurde still im Kirchenschiff. Draußen auf dem Dach krächzten die Krähen.
    »Ich habe erkannt, daß die Kirche sich von Gott abgewendet hat. Sie bemüht sich um Einfluß in der Landesregierung, sie besetzt Posten in den königlichen Ämtern, bei den Herzögen und bei den Earls. Die Christenheit schläft währenddessen einen tiefen Schlaf. Es ist Zeit aufzuwachen! Tausend Jahre haben wir es erduldet, daß uns das Wort Gottes in Latein gepredigt wurde, daß es zum Geheimnis wurde, weil das Volk kein Latein kannte. Hört, was Gott sagt, laßt mich das Geheimnis lüften und in englischer Sprache zu euch reden: ›Wenn du den Herrn, deinen Gott, suchst‹, sagt er im fünften Mosebuch, ›so wirst du ihn finden, wenn du ihn ehrlich und von ganzem Herzen suchst.‹ Er ist kein Gott der Priester, er ist ein Gott aller Menschen!«
    Anne spürte in sich eine Sehnsucht erwachen wie frische Liebe. Es beschleunigte ihren Atem, es machte sie traurig, furchtbar traurig. Gott suchte sie! Sie war in diese Kirche geraten, weil sie hören sollte, was der Alte sagte. Durch ihn sprach Gott, und er redete mit ihr, Anne.
    »›Fragt nach dem Herrn und nach seiner Macht‹, heißt es im einhundertfünften Psalm, ›sucht unermüdlich sein Angesicht.‹ Gott hat keine Freude am Schlaf der Kirche. Er will uns nahe sein! Darum predige ich gegen die Lügen der Kirche, darum greife ich ihre Wundergeschichten an und die Irrlehren der Priester, denn sie führen fort vom Allmächtigen.«
    Die Gesichter der Dörfler glühten, ihre Augen funkelten vor Glück. Anne hörte sie einen Namen sagen: »Doktor Hereford«. Er schmeckte neu in ihrer Kehle, das war nicht der Hereford, den sie gehaßt und gefürchtet hatte. Herefords Predigt erfüllte unbändige Kraft, weil Gott darin lebte.
    Thomas wandte sich um und überblickte mit schweißnassem Gesicht die Menge. Als er Anne erspähte, wich das feine |161| Lächeln von seinen Lippen. Er sah genauer hin. Und langsam, zögerlich, kehrte das Lächeln zurück. Wärme lag in seinem Blick. Freute er sich, sie zu sehen? Erschrak er nicht? Fürchtete er nicht, sie könnte Hereford verraten?
    Sein Blick ging ihr durch und durch. Ihr Herz begann zu rasen. Sie lächelte zurück. Die Handflächeln prickelten, sie reckte sich ein wenig höher auf. Thomas sah sie an, und wie er sie ansah!
    Was, wenn er erfuhr, daß sie ihn verraten hatte? Er würde sie hassen, mit jeder Faser seines Körpers.
    Das Böse geht ein wie süßer Honig, im Bauch jedoch ist es bitter wie Wermut, hatte Courtenay gesagt.
    Oh, es schmeckte süß! Es war das, nach dem sie sich all die Jahre gesehnt hatte!
    Bitter wie Wermut. Courtenay hatte sie gewarnt.
     
    Warum wendete sie sich ab? Was war in ihrem Gesicht plötzlich vorgegangen? Thomas hatte Angst darin gesehen, einen Kampf hinter Annes Stirn, die doch selbst dann, wenn sie weinte, glatt und unberührt blieb. Annes Lächeln war verschwunden, und nun schlüpfte sie durch die Kirchentür hinaus. Thomas konnte deutlich spüren, daß er sie verlor, daß die Nähe zerbrach, die sie eben empfunden hatten.
    Er bahnte sich einen Weg durch die Dörfler. Als er aus der Kirche trat, konnte er Anne am Ende der Brücke sehen; sie war im Begriff, sich in der milchigen Luft aufzulösen. Er eilte ihr nach. Das Kettenhemd rasselte.
    Anne hatte Doktor Hereford zugehört. Und sie war berührt worden durch das, was er sagte. Anne war gekommen, um mit ihrem Mann zu teilen, was ihn bewegte. Sie wollte ihm gefallen! Deshalb trug sie ihr bestes Kleidungsstück, den russischen Eichhörnchenmantel aus grauem Rückenfell, geschmückt mit Reihen von weißem Bauchfell. Thomas hätte sie viel eher einweihen sollen. Er hatte nicht erwartet, daß sie bereit war, sich von den falschen Lehren der Kirche abzuwenden. Er hätte ihr vertrauen sollen. Seine Vorsicht hatte sie verletzt, und womöglich |162| trug er die Schuld daran, daß ihre Ehe ein Winter war, nach dem einfach kein Frühling anbrechen wollte. Nie hätte er geglaubt, daß Annes Blick ihn so glücklich machen konnte.
    »Anne«, rief er, »warte!«
    Sie beschleunigte ihren Schritt.
    Er mußte laufen, um sie einzuholen. Keuchend stellte er sich ihr in den Weg. »Warum gehst du fort?«
    Sie schwieg. Ihr Gesicht verzerrte sich, als litte sie unerträgliche

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