Die Brillenmacherin
Schmerzen.
»Was macht dich traurig? Sprich! Rede mit mir.«
Sie schüttelte den Kopf, versuchte an ihm vorbeizugehen.
Thomas versperrte ihr den Weg. »Anne, das ist unsere Gelegenheit. Sie kommt so schnell nicht wieder. Bitte! Sage mir, was in dir vorgeht. Und wenn du das nicht kannst, dann sag irgend etwas, es fängt immer mit
einem
Wort an, und danach ist es leichter, als man gedacht hat. Rede mit mir.«
Sie preßte die Lippen aufeinander. »Ich kann nicht«, brach es aus ihr hervor.
»Erschreckt dich Herefords Predigt?«
Unvermittelt glättete sich ihre Stirn. Annes Atem ging ruhig. Sie wischte sich über das Gesicht, sah ihn an. »Es ist Ketzerei, und du weißt das, Thomas.«
Er schluckte. Das Gehörte hatte sie ergriffen, er hatte es ihr angesehen in der Kirche. Gewann nun die Kälte wieder Überhand in ihr? War es vielleicht, weil
er
Hereford glaubte und sie ihm, Thomas, nicht folgen wollte? »Es ist die Wahrheit«, sagte er. »Wie du sie benennst, ändert nichts daran.«
»Ich lasse mich nicht vom Bösen verführen.«
»Wie kannst du feststellen, daß Hereford von Bösem spricht, wenn du über seine Worte nicht nachdenkst?«
»Nicht mein Nachdenken bestimmt, was gut und was böse ist. Gott allein weiß das, und er spricht durch die Kirche.«
»Nein, das ist falsch! Wer ist die Kirche? Es sind Menschen, die sich irren können. Sie tun nichts anderes als das, was du ablehnst: Sie denken nach und teilen uns ihre Gedanken mit. Aber ihre Gedanken sind nicht zwangsläufig Gottes Gedanken.«
|163| »Und wie erfährst du Gottes Entscheidung? Woher weißt du, daß Herefords Gedanken gut sind?«
»Ich vergleiche sie mit den Berichten in der Bibel. Die Bibel ist ein verläßlicher Maßstab. Diese Leute haben mit Jesus gesprochen und seine Antworten niedergeschrieben. Manche haben mit Gott geredet, zu manchen sprach er im Traum. Gott wollte dieses Buch, weil er wußte, daß wir einen Turm brauchen, von dem aus wir weit blicken können.« Er stockte. »Und ich … Ich frage Gott.«
»Du?«
»Ich bitte ihn um Hilfe. Um einen wachen Verstand. Manchmal frage ich ihn etwas.«
»Thomas, bist du ein Geistlicher? Hast du die Priesterweihen empfangen? Wie kannst du dich erdreisten, zu erwarten, der Allmächtige würde mit dir reden?«
»Gott liebt mich wie ein Vater sein eigenes Kind. So steht es in der Schrift. Und er will, daß ich ihn frage.«
»Rede nie wieder davon zu mir.«
»Du willst es nicht glauben?«
»Ich glaube es nicht. Und es entsetzt mich, daß du es wagst, der heiligen Kirche zu widersprechen. Man wird dich ausschließen, wenn du so weitermachst. Wie willst du ewiges Leben erlangen, wenn du aus der Christengemeinschaft ausgestoßen bist? Dann bist du verloren.«
»Nicht die Kirche verschafft mir Unsterblichkeit. Christus selbst ist es. Und ich lasse mir von niemandem verbieten, nach ihm zu fragen, ihn zu suchen, ihm nachzuforschen.«
»Sei still! Ich will es nicht hören.«
»Anne, ich –«
»Mir ist kalt. Laß mich gehen.«
»Kannst du es annehmen, daß ich einer jener bin, die sie Ketzer und Lollarden schimpfen? Behältst du für dich, was du in der Kirche gehört hast?«
»Braybrooke ist dein Ort«, sagte sie leise. »Es ist deine Kirche.« Und sie raffte ihren Mantel zusammen, schob sich an ihm vorbei. Bei den Karpfenbecken nahm der Nebel sie auf. |164| Thomas fühlte sich krank. Das Kettenhemd drückte schwer auf seine Schultern. Ihn fröstelte. Er kehrte zur Kirche zurück, ein kurzer und doch weiter Weg, endlos zog er sich hin.
Hereford war gegangen, trotzdem war der Großteil der Dörfler noch da. In Trauben standen sie zusammen, stritten und feuerten sich an, jubelten und zweifelten.
»Verlaßt die Kirche«, befahl Thomas. Er stellte sich mit dem Rücken zum Altar und wartete, bis der letzte seiner Hörigen die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann ging er hinüber zum Grabkasten. Der Großvater lag als lebensgroße hölzerne Figur darauf, alles stimmte: die Gesichtszüge, die Hände. Geoffrey hatte sich zu Füßen des Großvaters niedergelassen, mit hölzerner Schnauze und hölzernen Ohren und hölzernem Hundekörper, und er hob den Kopf, um seinen Herrn anzuschauen und nachzusehen, ob er nicht aufstehen wollte. Der Großvater stand nicht mehr auf.
Er hatte ihm, Thomas, die Burg hinterlassen, die Brücke zur Kirche hatte er errichtet anstelle des alten, morschen Übergangs, und er war mit ihm spazierengegangen, als Thomas noch von einem Abenteurerleben träumte. Sie
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