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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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bald den linken, bald den rechten Steigbügel. Wann wurde sie endlich wieder heraufgezogen? Sie hatte keine Luft dort unten! »Was hat sie getan?«
    »Sie ist über den Marktplatz gestürmt, hat Stände umgestoßen und die Menschen angefallen. Herumgeschrien hat sie.«
    »Hole sie herauf, bitte, sie ertrinkt doch!«
    Nevill winkte den Männern am Seil.
    Kaum war der Kopf der Frau über Wasser, japste sie um Luft. Thomas hatte plötzlich das Gefühl, sie zu kennen, ohne daß er sich entsinnen konnte, wo und wann er sie gesehen hatte. Er spürte es, er sah sie nicht zum erstenmal. Sie war hübsch, sie gefiel ihm. Kaum vorstellbar, daß er jemanden ihres Aussehens so gründlich vergessen hatte.
    Nevill rief: »Runter! Gebt Seil!« Die Frau versank wieder im Wasserbottich.
    Voller Entsetzen sah Thomas zum Kastellan hinüber. Wie konnte er lächeln, während die Frau im Bottich um ihr Leben rang! Der Freund war ein grausamer Mann, Thomas begriff das. Roß an Roß standen sie inmitten der Menschenmenge. Hielt man ihn für genauso kaltblütig? Auch er hatte getötet, Dutzende Male, getötet von eigener Hand. Hatte er etwa ebenso gelächelt?
    Die Gaffer wiesen auf Blasen, die aus dem Wasser aufstiegen. Man schüttelte sich, verdrehte die Augen. Es war, als liefe ein wohliger Schauder über die Menschen. Sie waren froh, daß nicht sie im Bottich steckten. »Geschieht ihr recht«, sagte jemand nahe bei Thomas. »Sie wird daraus lernen. Ob wohl das Wasser recht kalt ist?«
    Nevill winkte, man zog am Seil. Das Keuchen aber blieb aus. Schlaff hing die Frau auf dem Stuhl, die Schultern eingesunken, das Kinn auf der Brust. »Ist sie tot? Ist sie tot?« brauste es durch die Menge. Nevill wendete sich ab. »Die weiteren acht Eintauchungen sind ihr erlassen«, rief er. »Schneidet sie |215| herunter, und drückt ihr das Wasser aus dem Bauch. Die kommt schon wieder zu sich.« Er lenkte den Schimmel über den Marktplatz in Richtung der Burg. »Komm, Freund, reiten wir zum Castle und machen einen kleinen Spaziergang über die Mauern. Du bist doch hier, um mir etwas zu erzählen.«
    Thomas rang mit sich. Sollte er den Freund rügen, sollte er ihm Hartherzigkeit vorwerfen? Jeder Vorwurf wäre auch ein Vorwurf an ihn, Thomas, selbst.
    Dienten sie nicht der Ordnung, wenn sie jemanden bestraften? War es nicht ihre Aufgabe, ihre Pflicht, mitunter grausam zu sein? Die Frau, an die er sich nicht erinnern konnte, hatte ein warmes Empfinden in ihm ausgelöst. Er verband etwas Gutes mit ihrem Gesicht, kein Zweifel. Wenn er wüßte, was es war! Er hätte ihr helfen müssen.
    »Wie geht es der Stadt?« fragte er.
    »Nottingham ist sauberer geworden. Die Angst vor einem neuen Pestausbruch wirkt Wunder, das sage ich dir. Plötzlich hat der Stadtrat Geld, um Leute anzustellen, die durch die Straßen ziehen und den Unrat entfernen.«
    »Das heißt, die verwilderten Hunde und Katzen, über die du dich beklagt hast, verschwinden allmählich, weil sie nichts mehr zu fressen finden?«
    William lachte. »Schön wäre es. Nein, die Hundeschläger haben noch genug zu tun. Vergangenes Jahr haben sie, wenn ich mich recht entsinne, vierhundertdreißig Tiere totgeprügelt.«
    Sie ritten am Rand des Marktplatzes entlang. Die Hufe der Pferde klopften auf das Kopfsteinpflaster. Thomas stieg Kotgeruch in die Nase. Er verzog das Gesicht. »Sauber ist Nottingham geworden? Ich würde sagen, ihr habt euch einfach an den Gestank gewöhnt.« So, wie er sich an die Unbarmherzigkeit gewöhnt hatte.
    »Unsinn. Du tust, als wärst du das erste Mal hier. Kennst du diese Gasse nicht?«
    Thomas blickte in eine schmale Straße, die nach einigen armseligen Häusern abrupt endete. »Warum sollte ich sie kennen?«
    |216| »Natürlich, du hast nie eine öffentliche Latrine besucht. Aber wissen kann man das. Es ist die Erleichterungsgasse, das Volk nennt sie so. Latrinen.«
    »Du meinst, es riecht hier immer so?« Thomas sah zur anderen Seite, prüfte die Stände. »Wie kriegen die Händler dann ausgerechnet vor dieser Gasse Zwiebeln, Butter und Eier verkauft?«
    »Das hat nichts mit dem zu tun, was sie verkaufen, sondern damit, wer es verkauft. Die Hackordnung, verstehst du? Wenn du zu denen gehörst, die wenig zu sagen haben und dankbar sein dürfen, daß sie auf dem Marktplatz geduldet werden, hast du deinen Stand nahe der Erleichterungsgasse. Sieh es mal so: Es kommen häufig Menschen vorbei.«
    »Aber nicht, um etwas zu kaufen.«
    Sie bogen in die Friar Lane ein, William ritt links

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