Die Brillenmacherin
du, die Großen haben ein Interesse daran, ihren Klerikern zu gestatten, daß sie sich wieder ausschließlich der Predigt widmen? Einen Laien müßten sie teuer bezahlen, ihren Geistlichen haben sie bereits für sein Kirchenamt durch einen Teil der Einkünfte des Bezirks bezahlt und lassen ihn zusätzlich in der Kanzlei arbeiten. Er macht zwei Dienste für den Lohn von einem – das wird so schnell niemand aufgeben.«
»Geld, Geld, ich höre immer nur Geld! Wo ist dein Glaube? Wo ist dein Wunsch, das zu tun, was richtig ist, weil es Gott befiehlt? Erinnere dich: Niemand kann zwei Meistern dienen, so hat Christus uns gelehrt. Dennoch dienen die verblendeten Kleriker nicht allein Gott, sondern biedern sich zugleich der weltlichen Macht an. Ein Geistlicher ist Hüter des Großen Siegels, einer ist der königliche Schatzmeister, William Pakington, der Erzdiakon von Canterbury und Dekan von Saint Martin’s-le-Grand, ist der Hüter der königlichen Garderobe, der Bischof von Salisbury ist der königliche Geheimsiegelbewahrer, und in den großen und kleinen Adelshäusern Englands sieht es genauso aus, bei John von Gaunt, du weißt es, sind der Kanzler, der Schatzmeister, der Leiter der Garderobe, die Steuerprüfer, die Anwälte allesamt Geistliche. Überall sitzen sie: in den Kanzleien, in den Schatzkammern, im Gericht.«
»Es stinkt zum Himmel, aber wie sollen wir dagegen ankommen? Die Geistlichkeit beherrscht die Schulen. Wer soll denn ihre Ämter übernehmen? Wer soll schreiben, wer verwalten, wer die Belange der Städte regeln? Es müssen Männer sein, die Latein und Französisch beherrschen. Sie müssen die Steuerverwaltung begreifen und die Regeln der Diplomatie. Da brauchst du gebildete, kluge Leute.«
»Natürlich kann kein Bauer die Arbeit eines Klerikers machen. Aber ich sage dir, wer die Geistlichen ersetzen wird: Edelleute, die nur über kleine Güter verfügen. Und genau das |222| öffnet uns das Tor dafür, die Kirche in England tatsächlich zu reformieren. Die Ritter der Shires im Parlament – sie werden rasch begreifen, wie sehr ihnen die Reform nützt. Der Hochadel verliert dadurch billige Arbeitskräfte, ja, auch mich wird es treffen. Die Edelleute im House of Commons aber und einige im House of Lords, sie erhalten die freigewordenen Ämter, wenn Priester wieder Priester sind und Dekane wieder Dekane und Bischöfe wieder Bischöfe. Denn während die sich endlich um die Predigt kümmern, um Gottes Wort und um die Gläubigen, können die Ritter der Shires und die adligen Abgeordneten sich eine goldene Nase verdienen.«
»Eine goldene Nase, die der Hochadel bezahlt.«
»So ist es.«
»Wo soll das Geld herkommen?«
»Wir enteignen die Kirche.«
Thomas schwieg. Dann nickte er. »Ja.«
William schlug ihm auf die Schulter. »Du wirst deine Zuversicht schon zurückgewinnen. Inzwischen sollten wir uns Gedanken machen, wie wir mehr Bewaffnete heranschaffen können, um Courtenay standzuhalten, sollte er tatsächlich gegen uns ziehen. Wann hat Montagu den Brief geschrieben?«
Thomas nestelte das Pergamentstück hervor. Die Zeilen erschienen als graue Felder, faserige, schwammige Würmer, denen er keinen Sinn entringen konnte. Er öffnete mit geübtem Handgriff die Brillendose am Gürtel und entnahm ihr das Sehgerät.
»Seit wann brauchst du eine Brille?«
»Schon eine Weile, aber ich wollte es nicht wahrhaben.« Thomas klappte die beiden Gläser auseinander und hielt sie sich vor die Augen. Nun sah er klar und deutlich. »Montagu hat den Brief noch im März verfaßt, am siebenundzwanzigsten.«
»Gelb und Grün!« rief William aus. »Deine Brille hat verschiedenfarbige Gläser!«
Und da begriff er. Wie hatte er ihr Gesicht vergessen können! Catherine. Catherine Rowe. Die Schuld landete mit schwerem Gewicht auf seinem Rücken und drückte ihn nieder. |223| »O Gott«, rief er. »Entschuldige mich, William.« Er hastete die lange Treppe hinunter, stürmte über den Hof und an den staunenden Wachen vorüber. Abrupt blieb er stehen, machte kehrt. »Wo sind die Pferde?« rief er. Man wies ihm den Weg. Er verpackte im Laufen Brief und Brille.
Gott, vergib mir, dachte er. Meine Hartherzigkeit und meine Bosheit sind beschämend. Vergib mir. Vergib mir. Glücklicherweise fand er die Pferde noch gesattelt vor. Er streifte den Hafersack vom Kopf seiner Stute und saß auf. Was, wenn die Brillenmacherin tot war, tot wie Elias? Er trug die Schuld daran. In seiner Macht hatte es gestanden, ihr Leben zu retten. Und
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