Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
der Vergangenheit seines Chefs angehört hatte, wollte ich gern mehr über diesen eigentümlichen Menschen erfahren, den Halunken von Angesicht zu Angesicht sehen und mit eigenen Augen in Aktion erleben. Tom hatte nichts dagegen, mich mit ihm bekannt zu machen, und als wir unser zweistündiges Mahl im Cosmic Diner beendet hatten, fand ich, ich könnte jetzt gleich mit meinem Neffen zum Laden gehen und mir meinen Wunsch noch an diesem Nachmittag erfüllen. Ich zahlte vorn an der Kasse, ging noch einmal an den Tisch zurück und legte zwanzig Dollar Trinkgeld für Marina hin. Ein absurd übertriebener Betrag – fast doppelt so viel, wie das Essen gekostet hatte   –, aber das war mir egal. Meine Angebetete strahlte mich dankbar an, und der Anblick ihrer Beglückung versetzte mich in so prächtige Laune, dass ich mich auf der Stelle entschloss, am Abend Rachel anzurufen und ihr zu erzählen, dass ihr verloren geglaubter Vetter wieder aufgetaucht war. Seit ihrem unerfreulichen, feindseligen Besuch Anfang April in meiner Wohnung hatte ich bei meiner Tochter verschissen, aber nun, da ich Tom wiedergefunden und Marina Gonzalez mir, als ich das Restaurant verließ, lächelnd eine Kusshand zugeworfen hatte, wollte ich mit der Welt wieder ganz ins Reine kommen. Ichhatte Rachel bereits einmal angerufen, um mich für meine groben Worte zu entschuldigen, aber da hatte sie nach dreißig Sekunden einfach aufgelegt. Jetzt wollte ich sie noch einmal anrufen, und diesmal würde ich so lange vor ihr zu Kreuze kriechen, bis die Atmosphäre zwischen uns wieder bereinigt war.
    Die Buchhandlung lag fünfeinhalb Blocks von dem Restaurant entfernt, und während Tom und ich in der milden Luft dieses Mainachmittags die Seventh Avenue hinunterschlenderten, sprachen wir weiter über Harry, den ehemaligen Dunkel von Dunkel Frères, der aus dem dunklen Wald seines früheren Ich geflohen war, um als helle Sonne am Firmament des falschen Spiels wieder aufzutauchen.
    «Ich hatte schon immer eine Schwäche für Gauner», sagte ich. «Als Freunde sind sie vielleicht nicht die zuverlässigsten, aber man stelle sich vor, wie eintönig das Leben ohne sie wäre.»
    «Ich bin mir nicht sicher, ob Harry noch ein Gauner ist», antwortete Tom. «Dafür zeigt er zu viel Reue.»
    «Einmal ein Gauner, immer ein Gauner. Die Menschen ändern sich nie.»
    «Ansichtssache. Ich sage, sie ändern sich doch.»
    «Du hast ja auch noch nicht in der Versicherungsbranche gearbeitet. Die Lust am Betrug ist universal, mein Junge, und wer einmal Geschmack daran gefunden hat, ist nicht mehr zu retten. Schnelles Geld – das ist die größte Versuchung von allen. Denk an all die Schlaumeier mit ihren getürkten Autounfällen und fingierten Personenschäden, denk an die Geschäftsleute, die ihre eigenen Läden und Kaufhäuser abfackeln, die Leute, die ihren eigenen Tod vortäuschen. Ich habe so etwas dreißig Jahre lang erlebt und bin seiner nie überdrüssig geworden. Das große Schauspiel der menschlichen Unehrlichkeit. Überall und ständigwird es gegeben, und ob es dir gefällt oder nicht, es ist das fesselndste Spektakel von allen.»
    Tom stieß die Luft aus, es klang wie eine Mischung aus Kichern und schallendem Gelächter. «Ich liebe es, wenn du solchen Blödsinn erzählst, Nathan. Bis jetzt war mir das gar nicht bewusst, aber es hat mir gefehlt. Es hat mir sehr gefehlt.»
    «Du glaubst, ich scherze», sagte ich, «aber ich sage nur, wie es ist. Die Perlen meiner Weisheit. Ein paar Erkenntnisse, nachdem ich ein Leben lang in den Gräben der Erfahrung geschuftet habe. Betrüger und Schwindler regieren die Welt. Schurken allenthalben. Und weißt du warum?»
    «Erzähl’s mir, Meister. Ich bin ganz Ohr.»
    «Weil sie hungriger sind als wir. Weil sie wissen, was sie wollen. Weil sie mehr an das Leben glauben als wir.»
    «Das denkst du auch bloß, Sokrates. Wenn ich nicht ständig Hunger hätte, würde ich wohl kaum mit so einem Riesenwanst herumlaufen.»
    «Du liebst das Leben, Tom, aber du glaubst nicht daran. Und ich auch nicht.»
    «Ich komme nicht mehr mit.»
    «Denk an Jakob und Esau. Du weißt doch?»
    «Ah. Okay. Jetzt kapier ich.»
    «Eine furchtbare Geschichte, oder?»
    «Ja, wirklich furchtbar. Hat mir als Kind ungeheuer zu schaffen gemacht. Damals war ich so ein tugendhafter, aufrichtiger kleiner Mann. Ich habe nie gelogen, nie gestohlen, nie betrogen, nie ein böses Wort gesagt. Und plötzlich dieser Esau, ein täppischer Einfaltspinsel, genau wie ich. Von

Weitere Kostenlose Bücher