Die Brooklyn-Revue
Marina. «Was sind Sie nur für ein verschlagener alter Mann, Nathan.»
«So alt nun auch wieder nicht», sagte ich.
«Und was passiert, wenn ich mal vergesse, dass ich die Kette trage?», fragte sie. «Was passiert, wenn ich eines Abends nach Hause komme und sie noch anhabe?»
«Das würden Sie niemals tun», sagte ich. «Dafür sind Sie zu klug.»
Und so zwang ich der jungen, treuherzigen Marina Luisa Sanchez Gonzalez das Geburtstagsgeschenk auf und erhielt für meine Mühe einen Kuss auf die Wange, einen lang gedehnten, zärtlichen Kuss, an den ich bis ans Ende meiner Tage denken werde. Das sind die Vergünstigungen, die dummen Männern zugestanden werden. Und ich bin wahrlich ein dummer, dummer Mann. Ich bekam meinen Kuss und ein strahlendes Dankeslächeln, und später bekam ich unerwartet noch viel mehr. Nämlich Ärger. Wenn ich zu dem Punkt meiner Geschichte komme, wo ich mit dem Ärger persönlich Bekanntschaft machte, werde ich ausführlich darauf zurückkommen. Aber jetzt ist erst einmal Freitagnachmittag, und ich habe mich um andere, dringendere Dinge zu kümmern. Das Wochenende naht, und keine dreißig Stunden nachdem Tom undich den Cosmic Diner verlassen hatten, saßen wir zusammen mit Harry Brightman beim Abendessen in einem anderen Restaurant, tranken Wein und rangen mit den Rätseln des Universums.
EIN GEMÜTLICHER ABEND
S amstagabend, 27
.
Mai 2000. Ein französisches Restaurant in der Smith Street in Brooklyn. Hinten links in der Ecke des Raums sitzen an einem runden Tisch drei Männer: Harry Brightman (vormals bekannt als Dunkel), Tom Wood und Nathan Glass. Sie haben gerade beim Kellner ihre Bestellungen abgegeben (drei verschiedene Vorspeisen, drei verschiedene Hauptspeisen, zwei Flaschen Wein – roten und weißen) und wenden sich jetzt wieder den Aperitifs zu, die ihnen kurz nach ihrem Eintritt in das Restaurant an den Tisch gebracht wurden. Toms Glas ist mit Bourbon gefüllt (Wild Turkey), Harry nippt an einem Wodka-Martini, und während Nathan sich den nächsten Schluck seines Single Malt Scotch hinter die Binde kippt (zwölf Jahre alter Macallan), fragt er sich, ob er nicht noch einen zweiten Drink vor dem Essen nehmen sollte. So viel zur Szenerie. Sobald das Gespräch beginnt, werden weitere Regieanweisungen auf ein Minimum beschränkt bleiben. Der Autor ist der Meinung, nur die von den oben erwähnten Figuren gesprochenen Sätze seien von Belang für die Erzählung. Aus diesem Grund gibt es keine Beschreibung der Kleider, die sie tragen, keine Bemerkungen zu dem Essen, das sie verzehren, keine Pausen, wenn einer von ihnen einmal aufsteht, um die Toilette aufzusuchen, keine Unterbrechungen durch den Kellner und kein einziges Wort über das Glas Rotwein, das Nathan sich über die Hose schüttet.
TOM: Mir geht es nicht darum, die Welt zu retten. Ich will mich hier nur selber retten. Und ein paar Leute, die mir wichtig sind. Dich zum Beispiel, Nathan. Und dich, Harry.
HARRY: Warum so niedergeschlagen, Junge? Du hast das beste Essen vor dir, das du seit Jahren gegessen hast, du bist der Jüngste hier am Tisch, und soweit ich weiß, hast du dir noch keine ernsthafte Krankheit zugezogen. Sieh dir Nathan an. Er hatte Lungenkrebs, und er hat nie geraucht. Und ich habe zwei Herzinfarkte hinter mir. Siehst du uns schimpfen? Wir sind die glücklichsten Menschen der Welt.
TOM: Nein, das seid ihr nicht. Ihr seid genauso unglücklich wie ich.
NATHAN: Harry hat Recht, Tom. So schlimm ist das alles gar nicht.
TOM: Doch, ist es. Es ist höchstens sogar noch schlimmer.
HARRY: Definiere bitte «es». Ich weiß überhaupt nicht mehr, wovon wir eigentlich reden.
TOM: Von der Welt. Dem großen schwarzen Loch, das wir Welt nennen.
HARRY: Ah, die Welt. Ja natürlich. Selbstverständlich. Die Welt stinkt. Das weiß jeder. Aber wir tun unser Bestes, uns von ihr fern zu halten, oder?
TOM: Stimmt nicht. Wir stecken mittendrin, ob es uns gefällt oder nicht. Die Welt ist überall um uns herum, und jedes Mal, wenn ich den Kopf hebe und mir das genau ansehe, befällt mich Ekel. Trauer und Ekel. Man sollte meinen, der Zweite Weltkrieg hätte wenigstens für ein paar hundert Jahre für Ruhe gesorgt. Aber wir zerfleischen uns immer noch. Wir hassen uns immer noch so sehr wie eh und je.
NATHAN: Das meinst du also. Die Politik.
TOM: Unter anderem, ja. Und die Wirtschaft. Und die Habgier. Und das abscheuliche Monstrum, zu dem sich dieses Land entwickelt hat. Die Irren von der christlichen Rechten. Die
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