Die Brooklyn-Revue
machte.
«Ja», sagte Tom. «Ich arbeite dort seit ungefähr sechs Monaten. Es gefällt mir.»
«Nancy hat früher selbst in dem Laden gearbeitet», sagte ich. «Bevor sie geheiratet hat.»
Statt auf meine Bemerkung zu antworten, sah Tom auf die Uhr und erklärte, er müsse gehen. Noch immer nichts ahnend, hob der Gegenstand seiner Anbetung ruhig die Hand zum Abschied. «War nett, Sie kennen zu lernen, Tom», sagte sie. «Bis irgendwann mal, hoffe ich.»
«Das hoffe ich auch», sagte er, und dann drehte er sich zu meiner nicht geringen Überraschung zu mir herum und schüttelte mir die Hand. «Wir treffen uns doch zum Lunch?»
«Aber sicher», sagte ich erleichtert, dass er nicht so aufgebracht war, wie ich mir eingebildet hatte. «Gleiche Zeit, gleicher Ort.»
Und damit ging er, watschelte mit seinem schwerfälligen Gang die Straße hinunter, bis er zu einem Punkt geschrumpft war.
Als er außer Hörweite war, sagte Nancy: «Er ist sehr schüchtern, oder?»
«Ja, sehr schüchtern. Aber ein guter und anständiger Mensch. Einer der besten auf der Welt.»
Die S. p. M. lächelte. «Soll ich Ihnen immer noch einen Künstlerladen nennen?»
«Ja, bitte. Aber ich würde mir auch gern Ihren Schmuck ansehen. Meine Tochter hat bald Geburtstag, und ich habenoch kein Geschenk für sie. Vielleicht können Sie mir helfen, etwas für sie auszusuchen.»
«Möglich. Gehen wir doch rein und sehen uns die Sachen mal an.»
VON DER DUMMHEIT DER MENSCHEN
A m Ende kaufte ich eine Halskette, die mich rund hundertsechzig Dollar kostete (dreißig Dollar Preisnachlass, weil ich bar bezahlte). Eine schöne, zierliche Arbeit: Topas, Granat und Kristall, alles auf ein dünnes Goldkettchen gezogen, und ich war mir sicher, dass es um Rachels schlanken Hals recht attraktiv wirken würde. Dass sie Geburtstag hatte, war gelogen – bis dahin dauerte es noch drei Monate –, aber ich fand, es konnte nicht schaden, ihr nach dem Brief vom Dienstag noch ein weiteres Friedensangebot zu schicken. Wenn alles andere versagt, überschütte sie mit Zeichen deiner Liebe.
Nancys Werkstatt befand sich in einem hinteren Raum im Erdgeschoss des Hauses, die Fenster gingen auf einen Garten, der freilich eher ein winziger Spielplatz als ein Garten war, in einer Ecke eine Schaukel, in einer anderen eine Plastikrutsche, dazwischen jede Menge Spielzeug und Gummibälle. Während ich mir die verschiedenen Ringe, Ketten und Ohrringe ansah, die sie zu verkaufen hatte, plauderten wir ziemlich entspannt über Gott und die Welt. Man konnte gut mit ihr reden; sie war sehr offen, sehr weitherzig, eine durch und durch freundliche Person – nur leider nicht sehr klug, wie ich bald erkannte, denn sie glaubte eifrig an Astrologie, an die Macht der Kristalle und alle möglichen anderen New-Age-Mätzchen. Na schön. Niemand ist vollkommen, wie es in dem alten Film heißt – nicht einmal die Schöne perfekte Mutter. Wirklich schade für Tom, dachteich. Er wäre schwer enttäuscht, wenn es ihm je gelänge, ein ernsthaftes Gespräch mit ihr anzufangen. Andererseits war es so vielleicht auch besser.
Einige wesentliche Tatsachen ihres Lebens hatte ich herausgefunden, und nun war ich neugierig, ob meine anderen Holmes’schen Schlussfolgerungen ebenfalls zutrafen oder nicht. Ich fragte sie daher weiter aus – nicht sehr gezielt, sondern möglichst unauffällig, immer nur dann, wenn sich eine Gelegenheit ergab. Die Ergebnisse waren nicht ganz einheitlich. Richtig vermutet hatte ich, was ihre schulische Ausbildung betraf (Public School 321, Midwood High, Brooklyn College, das sie nach zwei Jahren abbrach, um ihr Glück als Schauspielerin zu versuchen, woraus aber nichts wurde), als falsch hingegen erwies sich meine Annahme, dass sie das Haus von ihren verstorbenen Eltern geerbt hatte. Ihr Vater war tot, ihre Mutter aber noch sehr lebendig. Sie bewohnte das größte Zimmer im obersten Stockwerk, fuhr jeden Sonntag mit dem Fahrrad im Prospect Park spazieren und arbeitete mit achtundfünfzig noch immer als Sekretärin einer Anwaltskanzlei in Midtown Manhattan. So viel zu meinem unfehlbaren Genie. So viel zu Glass’ untrüglichem Blick.
Nancy war seit sieben Jahren verheiratet, ihren Mann nannte sie mal Jim, mal Jimmy. Als ich fragte, ob er Mazzucchelli heiße oder ob sie ihren Mädchennamen behalten habe, lachte sie und sagte, dass er ein waschechter Ire sei. Na ja, antwortete ich, immerhin fangen Italien und Irland beide mit I an. Auch darüber musste sie lachen, und lachend
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