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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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davon, Soldat zu werden. Widerlich. Absolut widerlich. Was für hirnlose Hohlköpfe wir Sterblichen sind. Jedenfalls phantasierte ich von diesem Hotel Existenz und machte es zu einem Heim für Waisenkinder. Europäische Kinder, natürlich. Ihre Väter waren in der Schlacht gefallen, ihre Mütter lagen unter den Trümmern zerbombter Kirchen und Häuser, und die Kinder irrten im eisigen Winter durch die Ruinen zerstörter Städte, suchten in den Wäldern nach Nahrung, einzeln, zu zweit, in Gruppen von vier und sechs und zehn, statt Schuhen Lumpen um die Füße gewickelt,die hageren Gesichter mit Schlamm bespritzt. Sie lebten in einer Welt ohne Erwachsene, und weil ich eine so furchtlose, altruistische Seele war, salbte ich mich zu ihrem Erlöser. Das war meine Mission, mein Lebenszweck, und bis zum Ende des Krieges sprang ich täglich mit dem Fallschirm über irgendeinem zerstörten Winkel Europas ab, um verwaiste und hungernde Jungen und Mädchen zu retten. Ich kämpfte mich brennende Berghänge hinab, schwamm durch explodierende Seen, bahnte mir mit dem Maschinengewehr einen Weg in feuchte Weinkeller, und immer wenn ich ein Waisenkind entdeckte, nahm ich es bei der Hand und brachte es in mein Hotel Existenz. In welchem Land ich war, spielte keine Rolle. Belgien oder Frankreich, Polen oder Italien, Holland oder Dänemark – das Hotel war immer in der Nähe, und immer gelang es mir, die Kinder dort unterzubringen, bevor es dunkel wurde. Sobald ich eins durch die Formalitäten am Empfang geschleust hatte, machte ich kehrt und ging. Meine Aufgabe war es nicht, das Hotel zu leiten – sondern nur, die Kinder zu finden und dort hinzubringen. Helden ruhen sich bekanntlich nicht aus. Sie dürfen nicht in weichen Betten mit Daunendecken und drei Kopfkissen schlafen, und sie haben nicht die Zeit, sich in die Hotelküche zu setzen und eine dampfende Portion Lammragout mit saftigen Kartoffeln und Möhren zu verspeisen. Sie müssen wieder in die Nacht hinaus und ihre Arbeit machen. Und meine Aufgabe war, die Kinder zu retten. Bis die letzte Kugel abgefeuert, bis die letzte Bombe abgeworfen war, musste ich hinaus und sie suchen.
    TOM: Und als der Krieg vorbei war?
    HARRY: Habe ich meine Träume von männlichem Mut und edler Selbstaufopferung aufgegeben. Das HotelExistenz schloss seine Pforten, und als es sie ein paar Jahre später wieder öffnete, stand es nicht mehr auf einer Wiese irgendwo in Ungarn und sah auch nicht mehr aus wie ein Barockschloss von den Prachtstraßen in Baden-Baden. Das neue Hotel Existenz war viel kleiner und schäbiger, und wenn man es jetzt finden wollte, musste man in eine der Großstädte, wo das wirkliche Leben erst nach Einbruch der Dunkelheit begann. New York zum Beispiel, oder Havanna, oder irgendeine schmutzige Seitenstraße in Paris. Jetzt stand das Hotel Existenz für Begriffe wie
intime Atmosphäre, Chiaroscuro
und
Schicksal
. Hier wurde man im Foyer diskret von Männern und Frauen gemustert. Hier herrschten Parfüm, Seidenkostüme und warme Haut vor, und jeder lief ständig mit einem Highball in der einen Hand und einer brennenden Zigarette in der anderen herum. Ich hatte das alles im Kino gesehen, ich wusste, wie es auszusehen hatte. Die Stammgäste unten in der Pianobar mit ihren trockenen Martinis. Das Casino im ersten Stock mit dem Roulettetisch und den gedämpften Geräuschen der Würfel auf dem grünen Filz, der ölige fremdländische Akzent, mit dem der Dealer beim Bakkarat seine Ansagen flüsterte. Der Tanzsaal unten mit den feudalen Ledersitzecken, im Scheinwerferlicht die Sängerin mit der rauchigen Stimme im silbrig schimmernden Kleid. Mit diesen Requisiten war das Haus eingerichtet, aber niemand kam hierhin, nur um zu trinken, zu spielen oder sich die Musik anzuhören, auch wenn die Sängerin an diesem Abend Rita Hayworth war, eigens für diesen einen Auftritt aus Buenos Aires eingeflogen von ihrem aktuellen Ehemann und Manager George Macready. Man musste sich erst einmal eingewöhnen, ein paar Schnäpse gekippt haben, bevor man zur Sache kommen konnte. Nicht Sache, ichmeine das Spiel, das unendlich vergnügliche Spiel, zu entscheiden, mit welcher Person man später am Abend nach oben gehen würde. Der erste Schritt geschah immer mit den Augen – mit nichts anderem, nur mit den Augen. Man ließ den Blick minutenlang von einem zum andern schweifen, nippte gelassen an seinem Glas, rauchte seine Zigarette, überdachte die Möglichkeiten, suchte nach einem Blick, der auf einen selbst

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