Die Brooklyn-Revue
es wäre das erste Mal, dass sie sich irren würde –, dann sind das gute Neuigkeiten. Denn das bedeutet, dass es Stanley besser geht, dass er wieder zu leben anfangen will. Al Junior ist jetzt schon einige Minuten dadrin. Ich kann mich täuschen, aber ich wette, Stanley ist ans Telefon gegangen, und die beiden besprechen, wie ihr drei da oben untergebracht werden könnt. Das wär doch was, oder? Wenn Stanley sein Haus wieder aufmacht, dann wären Sie die ersten zahlenden Kunden in der Geschichte des Chowder Inn. Du liebe Zeit. Das wär doch wirklich was, oder?»
TRAUMHAFTE TAGE IM HOTEL EXISTENZ
I ch möchte von Glück und Wohlbefinden sprechen, von jenen seltenen, unverhofften Momenten, wo die Stimme im Kopf verstummt und man sich eins fühlt mit der Welt.
Ich möchte vom Wetter Anfang Juni sprechen, von Harmonie und seliger Ruhe, von Rotkehlchen, Goldammern und Drosseln, die über grüne Wipfel schießen.
Ich möchte von der Wohltat des Schlafs sprechen, von der Beglückung durch Essen und Alkohol, von dem, was mit einem geschieht, wenn man ins Licht der Zweiuhrsonne tritt und von der warmen Umarmung der Luft umfangen wird.
Ich möchte von Tom und Lucy sprechen, von Stanley Chowder und unseren vier Tagen im Chowder Inn, von dem, was wir auf diesem Hügel im Süden Vermonts gedacht und geträumt haben.
Ich möchte mich an die himmelblauen Abenddämmerungen erinnern, an die wohligen, rosigen Morgendämmerungen, an das nächtliche Brüllen der Bären in den Wäldern.
Ich möchte mich an alles erinnern. Und wenn das zu viel verlangt ist, dann an einiges davon. Nein, an mehr als einiges davon. An fast alles. An fast alles, mit freien Stellen für das, was fehlt.
Der schweigsame, aber gastliche Stanley Chowder, der erfahrene Mäher seines Rasens, der gerissene Pokerspielerund Tischtennismeister, der Kenner alter amerikanischer Filme, der Veteran des Koreakriegs, der Vater einer zweiunddreißig Jahre alten Tochter mit dem unwahrscheinlichen Namen Honey – einer Grundschullehrerin, die in Brattleboro lebt. Stanley ist siebenundsechzig und sehr fit für sein Alter, hat einen vollen Haarschopf und klare blaue Augen. Sieht aus wie achtundfünfzig, kräftig gebaut, und sein Griff ist fest, als er mir die Hand gibt.
Er fährt den Hügel hinunter, um uns abzuholen. Nachdem er Al Junior und Al Senior begrüßt hat, stellt er sich uns vor und greift wacker zu, als wir unsere Sachen aus dem Kofferraum meines Wagens zur Ladefläche seines Volvo Kombi bringen. Mir fällt seine Beweglichkeit auf, fast im Laufschritt geht er zwischen den beiden Fahrzeugen hin und her. Wie gewandt und kraftvoll er ist. Stanley ist kein Trödler. Müßigkeit bringt zum Nachdenken, und Nachdenken kann gefährlich sein, wie jeder, der allein lebt, sofort nachvollziehen kann. Mit Al Seniors Bericht über Pegs Ableben im Ohr sehe ich Stanley als verlorene, gequälte Gestalt. Ein entgegenkommender, äußerst großzügiger Mensch, der sich aber nicht wohl fühlt in seiner Haut, ein gebrochener Mann, der sich alle Mühe gibt, sich wieder in den Griff zu bekommen.
Wir verabschieden uns von den Wilsons und danken ihnen für ihre Hilfe. Al Junior verspricht mir tägliche Bulletins zum Zustand meines Autos.
Ein steiler Feldweg, Wald zu beiden Seiten; holpriges Gelände; gelegentlich streift bei unserer Fahrt den Hügel hinauf ein tief hängender Zweig über die Frontscheibe. Stanley entschuldigt sich im Voraus für etwaige Probleme, auf die wir im Gasthaus stoßen könnten. Er hat in den vergangenen zwei Wochen sehr daran gearbeitet, es in Schuss zu bringen, aber es bleibt immer noch viel zu tun. Eigentlichhatte er am 4. Juli wiedereröffnen wollen, aber nachdem Al Junior ihm am Telefon von unserer misslichen Lage erzählt hatte, hätte er es «nicht für richtig gehalten», uns nicht für ein paar Tage aufzunehmen. Da er noch keine Mitarbeiter eingestellt hat, wird er selbst uns die Betten machen und dafür sorgen, dass wir uns so wohl fühlen, wie die Umstände es erlauben. Er hat bereits mit seiner Tochter in Brattleboro gesprochen, und sie hat zugesagt, täglich herzukommen und uns Abendessen zu machen. Er versichert uns, dass sie eine gute Köchin ist. Tom und ich danken ihm für seine Freundlichkeit. Von diesen vielfältigen Angelegenheiten in Anspruch genommen, fällt Stanley nicht auf, dass Lucy noch kein Wort gesagt hat.
Ein dreigeschossiger weißer Bau mit sechzehn Zimmern und Rundumveranda. Auf dem Schild neben der Einfahrt
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