Die Brooklyn-Revue
Da half auch nicht, dass ich Dryers falsches Spiel vorhergesehen hatte, dass ich den Hawthorne-Schwindel instinktiv als Trick, als Betrug innerhalb eines Betrugs durchschaut hatte und dass das Motiv für das alles von Anfang an Rache gewesen war. Was nützt Wissen, wenn man es nicht anwendet, um zu verhindern, dass ein Freund vernichtet wird? Ich hatte versucht, Harry zu warnen, aber längst nicht nachdrücklich genug – ich hatte zu wenig Zeit und Mühe aufgebracht, ihm begreiflich zu machen, warum er aus dem Geschäft hätte aussteigen müssen. Und jetzt war er tot – kaltblütig ermordet, ermordet obendrein auf eine Weise, dass seine Mörder niemals für ihr Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden konnten.
Als Rufus mit seinem Bericht fertig war, hätte ich am liebsten gleich selbst einen Rachefeldzug gestartet. Tom hatte nur eine sehr verschwommene Vorstellung davon, worum es bei dem Streit mit Dryer und Trumbell gegangenwar (er wusste, es hatte irgendwie mit dem von Harry eingefädelten Geschäft zu tun, mehr aber auch nicht), und Rufus und Nancy tappten vollständig im Dunkeln. Im Gegensatz zu Tom hatten sie von Gordon Dryer noch nie gehört, und auch von den Flecken auf Harrys Weste war ihnen nichts bekannt. Ich machte mir nicht die Mühe, sie über die Einzelheiten ins Bild zu setzen. Was hätte das nützen sollen? Für mich war jetzt nur wichtig, so schnell wie möglich ans Telefon zu kommen – und dafür zu sorgen, dass morgen kein Umzugswagen vor dem Laden auftauchte. Dryer und sein Freund mochten Harry getötet haben, aber ich würde nicht zulassen, dass sie ihn auch noch ausraubten.
Ich bat Tom um den Schlüssel für das Büro, und da er sich in diesem Augenblick in einem Zustand äußerster Verwirrtheit befand (Trauer um den unerwarteten Tod seines Chefs, Freude und Schrecken über die plötzliche Nähe zu Nancy, sein Bemühen, den schier untröstlichen Rufus zu trösten), langte er geistesabwesend in seine Tasche und gab ihn mir. Erst als ich zur Tür hinausging, kam er lange genug zur Besinnung, mich zu fragen, was ich vorhätte. «Nichts», sagte ich vage. «Ich muss nur mal was nachsehen. Bin gleich wieder da.»
Ich setzte mich an Harrys Schreibtisch und zog die mittlere Schublade auf. Wenn er Dryers Telefonnummer irgendwo aufbewahrt, dann vermutlich hier, dachte ich. Notfalls hätte ich auch Trumbell über die Auskunft aufgespürt, aber durch den Blick in die Schublade hoffte ich ein wenig Zeit zu sparen. Ausnahmsweise hatte ich einmal Glück. Ganz oben in der Schublade lag ein Briefumschlag, an dem eine grüne Haftnotiz befestigt war; darauf standen mit Tinte geschrieben zwei Worte:
Gordons Handy
, gefolgt von einer zehnstelligen Nummer, die mit der Vorwahl 917 anfing. Als ich den Zettel vom Umschlag abzog und neben das Telefonauf den Schreibtisch legte, sah ich, dass auch auf dem Umschlag etwas stand:
Im Falle meines Todes zu öffnen
.
Drinnen befanden sich zwölf mit Maschine geschriebene Seiten, ein von der Kanzlei Flynn, Bernstein & Vallaro in der Court Street aufgesetztes Testament, ordnungsgemäß unterschrieben, beglaubigt und ausgefertigt am 5. Juni 2000, also nur einen Tag bevor ich im Chowder Inn mit Harry telefoniert hatte. Ich überflog den Inhalt des Dokuments, und nach drei Minuten hatte ich begriffen, was er mit seinem
Riesending
, mit seinem
Coup schlechthin
, mit seinem
eleganten Kopfsprung zur ewigen Größe
gemeint hatte. Er hatte damit auf das Testament angespielt, das ich jetzt in Händen hielt und das in der Tat etwas Großartiges war, etwas vollkommen Überraschendes und Großartiges, der Beweis, dass ihm meine Warnungen sehr viel näher gegangen waren, als ich mir vorgestellt hatte. Mir gegenüber hatte er meinen Rat in den Wind geschlagen, für sich aber war er auf Nummer Sicher gegangen und hatte die Möglichkeit, dass Gordon ihn linken könnte, in Betracht gezogen: Er hatte geahnt, sollte es zu einem solchen Verrat kommen, wäre sein Leben vorbei – wenn auch nicht buchstäblich, so doch immerhin in dem Sinne, dass er eine so verheerende Enttäuschung nicht würde ertragen können. Das hatte er mir bei unserem Essen am ersten Juni ja selbst gesagt:
Wenn du mit Gordon Recht hast, ist mein Leben sowieso am Ende
. Der Gedanke, Gordon heuchle ihm was vor, um sich an ihm zu rächen, brachte ihn auf den Gedanken an seinen Tod. Der erste Gedanke führte naturgemäß zum zweiten, und am Ende waren die beiden Gedanken eins. Daher das Testament. Der Schritt mochte
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