Die Brooklyn-Revue
stürzte Harry hinter seinem Schreibtisch hervor und rannte ihnen nach. Rufus folgte ihm – aber langsam, vorsichtig, fast gelähmt vor Grauen. Als er unten ankam, hatten Dryer und Trumbell den Laden bereits verlassen, und Harry riss gerade die Tür auf – immer noch brüllend, setzte er ihnen nach. Draußen wartete ein Taxi mit laufendem Motor, und die beiden Männer waren schon hinten reingesprungen, ehe Harry sie einholen konnte. Als das Taxi davonfuhr, schüttelte er ihm die Fäuste hinterher,schrie zweimal
Mörder! Mörder!
und rannte dann, vollkommen außer sich, so schnell ihn seine Beine trugen, die Seventh Avenue hinunter, rempelte Fußgänger an, stolperte, schlug hin, rappelte sich auf und blieb erst stehen, als er an die nächste Ecke kam und das Taxi außer Sicht geriet. Rufus sah das alles aus der Ferne, beobachtete Harrys verschwommene Gestalt durch einen Schleier von Tränen.
In dem Augenblick, als Harry an der Ecke stehen blieb, kam Nancy Mazzucchelli um ebendiese Ecke und trat an ihren ehemaligen Chef heran, verblüfft, ihn in einem so schrecklichen Zustand zu sehen. Seine Wangen waren knallrot, er rang keuchend nach Luft, sein Jackett war am Ellbogen eingerissen, und sein immer sehr gepflegtes Haar flatterte ihm rings um den Schädel.
«Harry», sagte sie. «Was ist?»
«Die haben mich umgebracht, Nancy», antwortete Harry. Er hielt eine Faust an die Brust gepresst und rang weiter nach Luft. «Die haben mir ein Messer ins Herz gestoßen und mich umgebracht.»
Nancy legte beide Arme um ihn und tätschelte seinen Rücken. «Keine Sorge», sagte sie. «Alles wird wieder gut.»
Aber es war nicht gut; es war ganz und gar nicht gut. Denn noch während Nancy diese Worte sprach, stieß Harry ein lang gezogenes, kraftloses Stöhnen aus, und dann sackte sein Körper schlaff an ihren. Sie versuchte ihn festzuhalten, aber er war zu schwer für sie, und sie sanken beide ganz langsam zu Boden. Und so geschah es, dass Harry Brightman, einst bekannt als Harry Dunkel, Vater von Flora und Exmann von Bette, an einem schwülen Nachmittag des Jahres 2000 auf einem Brooklyner Bürgersteig in den Armen der S. p. M. sein Leben aushauchte.
GEGENANGRIFF
T om fuhr sehr schnell, und wir schafften es in weniger als fünf Stunden nach Park Slope zurück, sodass wir, gerade als die Sonne unterzugehen begann, vor dem Laden vorfuhren. Rufus und Nancy warteten, in dem abgedunkelten Schlafzimmer aneinander gekauert, oben in Harrys Wohnung auf uns. Dass sie anwesend war, kam mir irgendwie richtig vor, aber warum sie da war, begriff ich erst, als Rufus uns erzählte, was im Lauf des Tages passiert war. Vorher war so vieles zu bedenken, dass ich gar nicht auf die Idee kam, danach zu fragen.
Da die beiden Lucy noch nie gesehen hatten, stellten wir sie ihnen zunächst einmal vor. Dann brachte Tom unser Mädchen ins Wohnzimmer und setzte es vor den Fernseher. Normalerweise wäre das meine Aufgabe gewesen, aber ich glaube, Tom war so erschrocken, der S. p. M. in einer so ungewohnten Umgebung zu begegnen, dass er sich erst einmal für eine kurze Atempause zurückziehen musste. Seine Königin war wundersamerweise wieder aufgetaucht, und zweifellos hämmerte ihm das Herz wie verrückt in seiner liebeskranken Brust.
Rufus war schon um einiges ruhiger als Stunden zuvor bei seinem Anruf. Der Schock hatte sich ein wenig gelegt, und er konnte uns ohne allzu viele Unterbrechungen Bericht erstatten. Er und Nancy saßen auf dem Bett, und jedes Mal, wenn er doch wieder zu weinen anfing, schlang sie ihre Arme um ihn und hielt ihn fest, bis die Tränen versiegt waren. Auch sie selbst war oft den Tränen nahe, aber dankihres von Grund auf freundlichen Wesens erkannte sie, dass von allen, die an diesem Abend in der Wohnung anwesend waren, Rufus der Verzweifeltste war, derjenige, der Trost am meisten nötig hatte. Während er mit seinem bedächtigen jamaikanischen Singsang den Hergang der Ereignisse erzählte, erschienen vor meinem inneren Auge immer wieder Bilder von Harrys Leichnam, der nur wenige Blocks entfernt in einem Tiefkühlfach des Methodistenhospitals aufgebahrt war.
Ich hatte Harry nicht gut gekannt, aber er war mir auf eigenartige Art sympathisch gewesen (eine Mischung aus Faszination, Respekt und Skepsis), und wäre er unter irgendwelchen anderen Umständen gestorben, hätte mich das wahrscheinlich nicht so berührt. Mehr noch als Entsetzen, mehr noch als Trauer empfand ich Wut über das Ungeheuerliche, das man ihm angetan hatte.
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