Die Bruderschaft der Runen
eine Handspanne lang, rostig und mit grobem Bart.
»Das gibt's doch nicht!«, entfuhr es Quentin, der natürlich ebenso wie Sir Walter sofort ahnte, um welchen Schlüssel es sich handelte. Nur Lady Charlotte, die ihr Mann nicht über die jüngsten Geschehnisse unterrichtet hatte, weil er sie nicht beunruhigen wollte, war völlig ahnungslos.
»Was ist das?«, fragte sie ihren Mann.
»Das, meine Liebe«, erwiderte Sir Walter mit wissendem Lächeln, »scheint mir eine Einladung zu sein. Irgendwer scheint großen Wert darauf zu legen, dass Quentin und ich mit unseren Nachforschungen fortfahren. Und ich denke, wir werden ihm diesen Gefallen tun …«
12.
E rneut waren sie zusammengekommen, am Kreis der Steine, wo ihre Vorfahren sich schon vor tausenden von Jahren versammelt hatten, um dunkle Mächte zu beschwören.
Die Männer in den dunklen Roben und mit den rußgeschwärzten Masken starrten auf ihren Anführer, der wie immer in den Mittelpunkt des Kreises getreten war. Fahl leuchtete seine weiße Robe im Mondlicht.
»Brüder«, rief er so laut, dass alle ihn hören konnten, »wiederum haben wir uns versammelt. Das große Ereignis ist nicht mehr fern. Die Nacht, in der die Prophezeiungen wahr werden und die alten Schwüre sich erfüllen, steht bevor. Und es gibt Neuigkeiten, meine Brüder. Die Weissagung der Runen ist dabei, sich zu erfüllen. Diejenigen, die glauben, uns zu bekämpfen, arbeiten uns in Wahrheit weiterhin in die Hände! Ihre Neugier ist groß, ebenso wie ihr Wille, uns zu vernichten. Doch bei allem, was sie tun, werden sie uns nur zu dem verhelfen, was vor vielen hundert Jahren verheißen wurde und das wir uns nun, nach so langer Zeit, endlich nehmen werden.«
Die Sektierer nickten und drückten murmelnd ihre Zustimmung aus, ein leiser, unheimlicher Chor, der durch den Steinkreis geisterte, um sich in der Schwärze der Nacht zu verlieren.
»Aber es gibt nicht nur gute Nachrichten, meine Brüder. Ich will euch nicht verhehlen, dass eine neue Gefahr heraufgezogen ist. Ein alter, sehr alter Feind hat sich wieder zu regen begonnen. Vor langer Zeit glaubten unsere Vorgänger ihn besiegt zu haben, doch er hat nur geschlafen. Über all die Jahrhunderte hat er uns beobachtet und darauf gewartet, dass wir uns zeigen. Es scheint, meine Freunde, dass sich in diesen Tagen nicht nur unser Schicksal erfüllt. Auch der Kampf gegen jene, die für die neue Ordnung stehen, soll endlich fortgeführt werden. Die Entscheidung im Kampf zwischen ihrem Glauben und dem unseren wird fallen, meine Brüder. Wir werden diesen Konflikt zu Ende bringen und die Früchte des Sieges ernten. Wie in alter Zeit werden die Runen wieder herrschen!«
»Die Runen werden herrschen«, erwiderten die Sektierer wie aus einem Munde, und ihr Anführer konnte die Aggression, die ihm von allen Seiten entgegenschlug, fast körperlich spüren.
Er war ein Meister darin, die Menge zu manipulieren und zu lenken. Er wusste, wie er mit den Gefühlen der Menschen spielen konnte, kannte die Reizworte, mit denen sie sich lenken ließen und durch die sie taub wurden für alle Fragen.
Dass die Suche nach dem Artefakt noch zu keinem konkreten Ergebnis geführt hatte, verschwieg er geflissentlich. Viel wichtiger war es, den gemeinsamen Feind zu hassen. Denn der Hass, das hatte er schon vor langer Zeit begriffen, vermochte eine Gruppe stärker zusammenzuschmieden als jedes eiserne Band.
Hass auf die neue Ordnung.
Hass auf diejenigen, die sie vertraten.
Hass auf ein Zeitalter, das dekadent und verkommen war und das nach Erneuerung schrie. Erneuerung, welche die Bruderschaft der Runen bringen würde.
13.
D er Schlüssel passte.
Sir Walters Wangen waren gerötet wie die eines Schuljungen, der in Nachbars Garten Äpfel stahl. Leise klickte es im Schloss, und der Bügel sprang auf. Es folgte ein lautes Rasseln, als Quentin die rostige Kette beiseite zog und zu Boden fallen ließ. Schon war der Zugang zur verbotenen Kammer der Bibliothek frei.
Natürlich hatten weder Sir Walter noch sein Neffe ein Wort darüber verloren, welch denkwürdiges Geschenk ihnen am Vorabend zuteil geworden war. Dem Bibliothekar hatten sie lediglich gesagt, dass sie sich noch einmal in der Fragmentsammlung umschauen wollten. Im Kellergewölbe hatten sie sich sogleich darangemacht, die verbotene Tür zu öffnen.
Mit metallischem Ächzen schwang die Gittertür auf, und der Schein der Lampen fiel auf die Regale, die die Wände der Kammer einnahmen. Jedes davon war bis zum Rand mit
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