Die Bruderschaft der Runen
Schriftrollen und ledernen Mappen gefüllt, mit Urkunden und fragmentarischen Schriftstücken. Und irgendwo darunter, da war sich Sir Walter sicher, befanden sich Hinweise auf die geheimnisvolle Bruderschaft.
»Professor Gainswick würde gewiss einiges darum geben, jetzt bei uns zu sein«, meinte Quentin, als sie die Kammer betraten.
»Zweifellos würde er das«, stimmte Sir Walter zu. »Möglicherweise finden wir ja das eine oder andere Schriftstück, das wir ihm zur Begutachtung vorlegen können. Machen wir uns also an die Arbeit, mein Junge. Du kümmerst dich um das Regal auf der rechten Seite, ich nehme mir die linke Seite vor.«
»In Ordnung, Onkel. Und wonach genau suchen wir?«
»Nach allem, was auch nur annähernd mit unserem Thema zu tun hat. Wenn dir Schriftstücke in die Hände fallen, in denen es um heidnische Bräuche, um Runenkunde oder um geheime Bruderschaften geht, dann hast du gefunden, wonach wir suchen.«
Schulterzuckend machte sich Quentin an die Arbeit. Seine Vorsicht und seine Neugier hielten sich inzwischen die Waage. Der erste Ordner, nach dem er griff, war von dicken Spinnweben überzogen. Staub wölkte auf und zwang Quentin zu einem Hustenanfall, dann lag der Band endlich vor ihm auf dem Tisch. Der lederne Umschlag enthielt eine Vielzahl von Schriftstücken, und die meisten waren aus altem, aufgequollenem Papier. Die Tinte war oftmals zerlaufen, sodass das Lesen einige Probleme bereitete. Pergamente waren ungleich leichter zu lesen, dafür aber musste Quentin zumeist seine Kenntnisse in Latein und Griechisch bemühen, um den scheinbar endlos aneinander gereihten Zeichen einen Sinn zu entlocken.
Die meisten der Unterlagen waren Urkunden über Grundstücksübereignungen und damit zusammenhängende Lehensrechte oder Erbschaftsbelange. Der Grund dafür, dass sie unter Verschluss gehalten wurden, durfte weniger daran liegen, dass sie brisantes Material enthielten; vielmehr hatte man sie wohl verschwinden lassen, damit nicht rückwirkend Ansprüche geltend gemacht werden konnten.
Quentin schlug den Ordner zu und nahm sich die nächste Mappe vor. Die Dokumente darin waren fast ausnahmslos auf Pergament geschrieben und enthielten Siegel, die bis in die frühchristliche Zeit zurückdatierten. Ehrfurcht überkam Sir Walters Neffen, wenn er daran dachte, wie alt diese Schriftstücke waren. Vor vielen hundert Jahren hatten Mönche und Hofschreiber sie aufgesetzt, freilich ohne daran zu denken, dass sie in ferner Zukunft einmal gelesen würden. Allmählich begriff Quentin, was sein Onkel gemeint hatte, als er von lebendiger Geschichte gesprochen hatte und davon, aus den Taten und Fehlern vorangegangener Generationen zu lernen.
Als Nächstes stieß Quentin auf einige Palimpseste – Pergamente, die bereits einmal beschrieben worden waren und deren Beschriftung man aus Sparsamkeitsgründen wieder entfernt hatte. Oft genug war dies jedoch nur halbherzig geschehen, sodass man an manchen Stellen noch sehen konnte, was zuvor darauf gestanden hatte.
Anfangs fand Quentin es noch recht spannend, in detektivischer Arbeit herauszufinden, was man der Nachwelt hatte vorenthalten wollen. Schließlich wurde ihm aber klar, dass die Schreiber der Vergangenheit durchaus ihre Gründe dafür gehabt hatten, die erste Beschriftung der Pergamente zu entfernen. Es handelte sich dabei im Großen und Ganzen um höchst langweilige Sachverhalte: Notizen, Vermerke und Verbriefungen, die längst verfallen waren und nichts mit dem zu tun hatten, wonach Sir Walter und sein Neffe suchten.
So ging es einige Stunden.
Im Licht zweier Petroleumlaternen, die sie mehrmals nachfüllen mussten, studierten die beiden eine Unzahl von Schriften; sie nahmen Einsicht in Urkunden und lasen Fragmente von Büchern, die niemals fertig gestellt oder nur zum Teil überliefert worden waren. So stießen sie auf ein Buch mit detaillierten Zeichnungen des menschlichen Körpers, außerdem auf Blätter mit Liebesgedichten von Catull, Ovid und anderen Poeten der römischen Klassik. Es war ein reicher Fundus an Schriften, deren bloße Existenz genügt hatte, um die Sittenwächter auf den Plan zu rufen.
Nur das, was sie suchten, fanden Sir Walter und sein Neffe nicht. Schließlich griff Quentin nach einem Band, der im obersten Regal stand und gut doppelt so dick war wie alle anderen. Kaum hielt Quentin ihn in der Hand, verlor er das Gleichgewicht und kippte nach vorn. Mit einem Aufschrei fiel er von dem Stuhl, auf den er gestiegen war, um das Regal
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