Die Bruderschaft der Runen
Laune des Schicksals schien diese Seite vorerst noch davor bewahrt zu haben. Allerdings konnte diese Laune jeden Augenblick ein Ende haben, wenn der letzte verbliebene Pfeiler nachgab. Oder, was noch wahrscheinlicher war, wenn das morsche Holz des Geländers seinen Dienst versagte.
Trotz der Panik, die sie fühlte, war Mary klar, dass sie keinen Augenblick länger in der Kutsche ausharren durften. »Wir müssen die Kutsche verlassen«, war ihr erster Gedanke. »Komm, Kitty.«
»Nein, Mylady.« Die Zofe schüttelte krampfhaft den Kopf, Tränen der Panik rannen ihr über die Wangen. »Ich kann nicht.«
»Aber ja! Ich weiß, dass du es kannst.«
Kitty schüttelte weiter den Kopf, trotzig wie ein kleines Mädchen. »Wir werden sterben«, schluchzte sie, »genau wie Winston.«
»Nein, das werden wir nicht«, widersprach Mary entschieden. Ihr Gesichtsausdruck hatte nichts mehr von der Distinguiertheit einer Lady aus vornehmem Hause. Die Entschlossenheit hatte dicke Adern auf ihrer blassen Stirn anschwellen lassen, und aus ihren sanften Augen sprach der eiserne Wille zu überleben. »Wir müssen die Kutsche verlassen, Kitty. Wenn wir hier bleiben, sterben wir.«
»Aber … aber …«, presste die Zofe stammelnd hervor. Sie war kreidebleich im Gesicht und zitterte am ganzen Körper. Ihr zuvor noch so unbekümmertes Wesen war von Tränen der Angst hinweggespült worden.
Auch Mary fühlte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug; sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick den Boden unter den Füßen zu verlieren – und das im doppelten Sinn. Mit eiserner Disziplin zwang sie sich dazu, sich zusammenzunehmen und das Einzige zu tun, das ihrer Zofe und ihr das Leben retten konnte.
Langsam rutschte sie über die Sitzbank zur anderen Seite der Kutsche hinauf, begleitet vom nervösen Knacken des Geländers. Irgendwie gelang es ihr, die Tür zu entriegeln und sie aufzustoßen. Über ihr war der blaue Himmel zu sehen.
»Los, Kitty«, raunte sie ihrer Zofe zu. »Dort hinauf.«
»Gehen Sie nur, Mylady. Ich werde hier bleiben.«
»Um was zu tun? Zu sterben?«, fragte Mary hart. »Das kommt nicht infrage. Los jetzt.«
»Bitte nicht, Mylady!«
»Verdammt nochmal, beweg dich endlich, du verzogenes Gör!«, herrschte Mary sie an, und obwohl sich die Worte wie auch der Tonfall weniger für eine Dame als für einen Schleifer auf dem Kasernenhof geziemten, verfehlten sie ihre Wirkung nicht.
Zaghaft löste sich Kitty aus der Ecke, in der sie reglos gekauert hatte, und ergriff Marys Hand, um aus der Kutsche zu klettern. Plötzlich war ein lautes Knacken zu hören. Voller Entsetzen gewahrte Mary, dass das Geländer nachgab und sich unter der Beanspruchung bog.
Dann ertönte ein helles Knacken. Einer der Holme brach, worauf sich die Kutsche ein Stück weiter dem Abgrund zu neigte. Doch noch hatte das Geländer seinen aussichtslosen Kampf nicht verloren, und das schwere Gefährt hing jetzt am sprichwörtlich seidenen Faden.
Kitty starrte zitternd in die Tiefe, die durch das Fenster zu sehen war. »Rasch«, raunte Mary ihr zu und ergriff ihre Hand, zog sie an sich heran, um ihr dann dabei zu helfen, aus der Kutsche zu klettern. Kitty bewegte sich ungeschickt, ihr seidenes Kleid war ihr hinderlich. Mit einer Mischung aus Geduld und sanfter Gewalt gelang es Mary, ihre Zofe nach draußen zu bugsieren. Nachdem sie einen letzten Blick in die gähnende Leere geworfen hatte, verließ auch sie die Kutsche.
Kittys zarte Hände streckten sich ihr entgegen und halfen ihr beim Ausstieg. Mit zitternden Gliedern stemmte sich Mary empor und schaffte es trotz ihres weiten Kleides, aus der Öffnung zu klettern. Vor Angst am ganzen Körper bebend, kauerten die beiden Frauen auf der schrägen Seitenwand der Kutsche, und in diesem Augenblick wurde ihnen erst bewusst, wie aussichtslos die Lage war.
Nur ein einzelner Pfeiler der Brücke war heil geblieben, der das letzte Stück Fahrbahn trug, auf dem die Kutsche stand – allerdings war der Pfeiler bereits eingeknickt und würde bald nachgeben, um den Rest der Brücke – und mit ihm die Kutsche – ins Verderben zu reißen.
Verzweifelt blickte Mary zum Klippenrand empor. Der hölzerne Fahrweg der Brücke war seitlich abgefallen und hing schräg über der Schlucht; er schien nur noch an wenigen hölzernen Fasern zu hängen. Wenn sie rissen, war es vorbei. Mary spürte, wie es in den Tiefen rumorte, hörte das markige Knacken des Pfeilers, der der Belastung nicht mehr lange standhalten würde.
»Oh,
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