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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Mylady«, jammerte Kitty und starrte entsetzt in die Tiefe. »Mylady, Mylady …«
    Sie wiederholte es wie eine Beschwörungsformel, während bittere Tränen über ihre Wangen rannen. Verzweifelt suchte Mary nach einem Ausweg, musste jedoch einsehen, dass es keinen gab. Weder hatten sie eine Chance, das andere Ufer zu erreichen, noch konnten sie zurück. Eine ungeschickte Bewegung, ein Schritt in die falsche Richtung, und der Pfeiler würde nachgeben.
    Die Angst und die Panik, die sie zuvor noch so erfolgreich bekämpft hatte, ergriffen nun auch von ihr Besitz. Mary und ihre Zofe nahmen sich bei den Händen, um sich in den letzten Minuten – vielleicht auch nur Sekunden – ihres Lebens gegenseitig Trost zu spenden.
    Die beiden waren so verängstigt, dass sie nicht merkten, wie die Rettung kam – in der unscheinbaren Gestalt eines Seils.
    Verwirrt starrte Mary auf das zu einer Schlinge geformte Ende des Stricks. Instinktiv griff sie danach und blickte hinauf zur Klippe, woher es gekommen war. Es war niemand zu sehen, aber im nächsten Augenblick wurde ein zweites Seil herabgeworfen. Auch hier war das Ende zu einer Schlinge gebunden worden.
    »Rasch!«, war eine drängende Stimme von oben zu vernehmen. »Legen Sie sich die Schlingen um!«
    Mary und Kitty tauschten einen verwunderten Blick. Dann taten sie, wie die Stimme ihnen geheißen hatte, schlüpften mit den Armen durch die Schlingen und legten sie sich um. Keinen Augenblick zu früh!
    Einen Herzschlag später gab das Brückengeländer nach. Mit lautem Knacken barst das morsche Holz, und die Kutsche, auf der die beiden Frauen kauerten, rutschte über die schrägen Bohlen in die Tiefe, stürzte hinab und tauchte gischtend in die Fluten.
    Mary und ihre Zofe schrien laut, als sie den Halt unter den Füßen verloren. Einen Augenblick fürchteten sie schon, ebenfalls hinabgerissen zu werden, doch die Seile hielten sie. Gleichzeitig spürten sie, wie sie nach oben gezogen wurden, während unter ihnen der Rest der Brücke, seiner Statik gänzlich beraubt, knirschend in sich zusammenfiel.
    Das Ächzen des Pfeilers und das Bersten des Holzes übertönten selbst Kittys Schreie. Beklommen sahen die beiden Frauen mit an, wie sich der Rest der Brücke vom Klippenrand löste und mit infernalischem Getöse in die Tiefe stürzte, während sie selbst hilflos über dem Abgrund schwebten, im wahrsten Sinn des Wortes zwischen Leben und Tod.
    Doch wer immer das andere Ende des Seiles hielt, schien nicht gewillt, es loszulassen. Über der gähnenden Tiefe baumelnd, wurden Mary of Egton und ihre Zofe hinaufgezogen, ganz langsam, Stück für Stück.
    Kittys Schreie erstarben, und ihre sonst so rosigen Züge verfärbten sich grün. Im nächsten Moment verlor sie das Bewusstsein – der Schock und der Schrecken der Ereignisse waren zu viel für sie gewesen. Reglos hing sie in der Schlinge, die sie ruckweise nach oben zog.
    Mary blieb noch lange genug bei Bewusstsein, um zu erleben, wie sie den schützenden Klippenrand erreichte. Mit zitternden Händen tastete sie nach dem Fels. Von oben reckten sich ihr Hände entgegen, die ihre Handgelenke umklammerten und ihr dabei halfen, sicheren Boden unter den Füßen zu gewinnen.
    Erschöpft ließ sie sich in den Staub fallen. Ihr Atem ging ungleichmäßig, ihr Herzschlag raste, und sie merkte, wie auch ihr die Sinne schwanden.
    Sie hatte ihr Ende bereits vor sich gesehen und konnte es kaum fassen, dass sie gerettet worden war. Es kam ihr vor wie ein Wunder, und sie wollte unbedingt einen Blick auf ihre geheimnisvollen Retter erheischen, ehe sich die Ohnmacht über sie breitete.
    Ein Gesicht erschien über ihr. Es gehörte einem jungen Mann mit ein wenig einfältigen, aber ehrlichen und sympathischen Zügen, der sie besorgt betrachtete.
    Ein zweites Gesicht gesellte sich hinzu, dessen Besitzer einige Jahre älter war. Ein breites, energisch wirkendes Kinn zierte ein rundes, von weißgrauem Haar umrahmtes Antlitz. Das prüfende Augenpaar, das ihr daraus entgegenblickte, war wach und klar und hätte einem Gelehrten ebenso gehören können wie einem Poeten.
    »Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich der Mann, und während ihre Sinne sich trübten, wurde Mary bewusst, dass sie dieses Gesicht kannte.
    Es war ihr in dem Buch begegnet, das sie gelesen hatte und das von den tapferen Taten des Ritters Wilfred von Ivanhoe handelte. Und als sich die Ohnmacht wie ein dichter, dunkler Sack über sie stülpte, dachte sie, dass ihr geheimnisvoller Retter kein

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