Die Bruderschaft der Runen
Mylady.«
»Danke«, sagte Mary leise und nahm das Taschentuch, das er ihr reichte, um die Tränen zu trocknen. »Sie sind sehr gütig, Sir. Und Sie haben uns gerettet. Wären Sie nicht gewesen …«
»Wir waren nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, wiegelte Sir Walter ab, wobei Mary für einen kurzen Moment einen Schatten auf seinen Zügen zu erkennen glaubte. »Jeder hätte an unserer Stelle getan, was wir getan haben.«
»Das bezweifle ich sehr«, erwiderte Mary. »Ich hoffe inständig, dass ich mich eines Tages dafür bei Ihnen revanchieren kann, Sir.«
»Und ich bete, dass der Herr das verhindern möge, Mylady«, konterte Sir Walter mit spitzbübischem Lächeln. »Wie fühlen Sie sich?«
»Nun, ich würde sagen, in Anbetracht der Fährnisse, die hinter mir liegen, fühle ich mich gut.«
»Das freut mich zu hören.« Sir Walter nickte. »Ich werde eine der Dienerinnen anweisen, Ihnen Tee und etwas Gebäck zu bringen. Sie müssen hungrig sein.«
»Es geht. Ehrlich gesagt fühlt sich mein Magen eher an, als hätte ich einen Sack Flöhe verschluckt.« Sie errötete und legte hastig die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie, Sir. Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe.«
»Warum nicht?« Sir Walter musste lachen. »Glauben Sie mir, es gibt viel zu viele junge Frauen von Adel, die mit ihrer Sprache so umgehen, als könnte man damit rohe Eier zerschlagen. Ich finde es erfrischend, wenn eine Frau von vornehmer Herkunft sich ein wenig schöpferischer auszudrücken weiß.«
»Sie … Sie wissen, wer ich bin?« Mary errötete noch mehr. »Dabei habe ich mich Ihnen noch nicht einmal vorgestellt. Sie müssen mich für sehr unhöflich halten.«
»Keineswegs, Lady Mary«, erwiderte Sir Walter galant. »Unhöflich wäre es gewesen, Sie danach zu fragen. Ihr Ruf ist Ihnen ohnehin gewissermaßen vorausgeeilt.«
»Woher …?«, fragte Mary, um sich dann selbst die Antwort zu geben. »Die Kutsche. Mein Gepäck …«
»Was davon aus dem Fluss geborgen werden konnte, wurde hierher gebracht. Ich fürchte nur, Sie werden nicht mehr viel Freude daran haben.«
»Das schadet nicht. Nach allem, was geschehen ist, bin ich so dankbar dafür, noch am Leben zu sein, dass ich mich nicht wegen ein paar dummer Kleider beschweren möchte.«
»Das ist sehr klug von Ihnen – wenn auch nicht gerade typisch für eine junge Dame aus hohem Hause, wenn mir die Bemerkung gestattet ist.«
»Sie haben mir das Leben gerettet, Sir«, erwiderte Mary lächelnd. »Natürlich ist es Ihnen gestattet, und Sie haben natürlich Recht. Ich bin wohl nicht gerade eine typische Vertreterin meines Standes.«
»Seien Sie froh darüber, Mylady. Die meisten jungen Frauen wären verängstigt in der Kutsche sitzen geblieben und in den Tod gerissen worden. Sie jedoch waren mutig genug zu handeln.«
»So habe ich es noch nicht betrachtet.« Sie lächelte wieder. »Wie lange bin ich ohne Bewusstsein gewesen?«
»Einen Tag und eine Nacht«, erwiderte Sir Walter.
»Und in all der Zeit bin ich hier gewesen?«
»Verzeihen Sie meine Eigenmächtigkeit, aber ich hielt es für das Beste, Sie nach Abbotsford zu bringen. Hier sind Sie in Sicherheit und können sich erholen nach allem, was geschehen ist.«
»Abbotsford«, wiederholte Mary leise. Die Romanze aus Stein und Mörtel – so pflegte Walter Scott seinen Landsitz zu nennen.
Erneut befiel sie bleierne Müdigkeit, und sie musste blinzeln. Verschwommen sah sie, wie Sir Walter sich abwandte und das Zimmer verließ, und wie aus weiter Ferne nahm sie wahr, dass noch jemand im Zimmer stand, den sie erst jetzt bemerkte – ein junger Mann mit rötlich blondem Haar, der nervös die Hände rang und besorgt zu ihr herüberblickte.
Dann wurde die Erschöpfung übermächtig, und sie schlief wieder ein.
Quentin stand reglos da. Obwohl ihm klar war, dass dies keinesfalls das Betragen eines Gentlemans war, konnte er seine Augen nicht von der jungen Frau abwenden.
Mary of Egton – so lautete ihr Name – war das zauberhafteste Geschöpf, das ihm je begegnet war.
Ihr schlanker, vollendeter Wuchs, das hübsche, edle Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der nach oben geschwungenen Nase, die vielleicht ein wenig zu keck für eine Dame von Adel war, die wasserblauen Augen, der schmale kleine Mund und das blond gelockte Haar, das offen über das Kissen wallte – all das schlug den jungen Mann völlig in den Bann.
Bislang hatte sich Quentin nie besonders für Frauen interessiert – zum einen
Weitere Kostenlose Bücher