Die Bruderschaft der Runen
anderer sein konnte als Sir Ivanhoe selbst …
7.
A ls Mary die Augen wieder öffnete, hatte sich scheinbar nichts verändert. Das Gesicht schwebte noch immer über ihr und blickte sorgenvoll auf sie herab.
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie leise. »Entweder bin ich tot, und das ist der Himmel, oder …«
»Tot sind Sie nicht, mein Kind«, sagte das Gesicht mit mildem Lächeln. »Und der Himmel ist dies auch nicht. Obwohl ich mir große Mühe gegeben habe, es mir hier so angenehm wie möglich zu machen.«
Sie blinzelte, woraufhin die Benommenheit ein wenig von ihr wich. Verblüfft stellte sie fest, dass sie sich nicht mehr unter freiem Himmel befand. Sie lag in einem weichen Bett in einem großzügigen Zimmer, dessen Decke von hölzernen, mit Schnitzereien verzierten Balken getragen wurde. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, die Luft von Wachsgeruch durchtränkt.
Durch das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes flutete warmes, freundliches Sonnenlicht, wie es nur das Frühjahr mit sich brachte. Süßliche Gerüche drangen von draußen herein, der Duft von Blüten, die Mary nicht kannte, die ihre Lebensgeister jedoch wieder weckten.
Zunächst kam die Umgebung ihr vor wie ein ferner, entrückter Traum. Aber mit jedem Augenblick, der verstrich, wuchs in ihr die Erkenntnis, dass sie keineswegs tot und im Himmel war, sondern dass es das Leben, die Wirklichkeit war, die sie umgab. Und das bedeutete auch, dass der Mann, der vor ihrem Bett stand und besorgt auf sie herabsah, kein Engel war, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Ihr heldenhafter Retter …
»Sie sind nicht Sir Ivanhoe«, stellte sie fest und errötete dabei.
»Nicht ganz.« Der Mann mit dem weißen Haar lächelte. Sein schottischer Akzent war ausgeprägt, ohne bäuerlich zu wirken. Viel eher hatte Mary das Gefühl, einen vollendeten Gentleman vor sich zu haben.
»Bitte verzeihen Sie mir, dass ich mich noch nicht vorstellen konnte«, sagte er. »Mein Name ist Walter Scott, Mylady. Zu Ihren Diensten.«
»Walter Scott?« Im ersten Moment glaubte Mary, noch immer zu träumen. Dann wurde ihr klar, dass sie wach war – und dass sie sich tatsächlich dem Autor der Romane gegenübersah, die sie so sehr liebte. Sie bemühte sich jedoch, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte gehört, dass Sir Walter seine Profession gern für sich behielt, und sie wollte ihn nicht beschämen.
»Sollten wir uns kennen?«, fragte er. »Verzeihen Sie mir, wenn ich mich nicht erinnere, Mylady. Aber bisweilen scheint mein Gedächtnis, auf das ich mir immerhin allerhand einbilde, mich schändlich im Stich zu lassen.«
»Keineswegs.« Sie schüttelte den Kopf, woraufhin sie das Gefühl bekam, eine Hammerschmiede nähme ihre Arbeit darin auf. Zugleich kehrte die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse zu ihr zurück.
Noch einmal durchlebte sie die Augenblicke der Furcht und Ungewissheit. Sie sah die Brücke einstürzen, hörte das Knacken der Balken und Kittys entsetzte Schreie, fühlte ihre eigene Angst. Dennoch war es das Wohl ihrer Zofe, das ihr am meisten am Herzen lag.
»Wie geht es Kitty?«, fragte sie. »Ist sie …?«
»Keine Sorge«, erwiderte Sir Walter. »Sie ist wohlauf. Der Doktor hat ihr ein Tonikum aus Baldrianextrakt verabreicht. Sie schläft.«
»Und … Winston?«
Sir Walter schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, Mylady. Die Leiche Ihres Kutschers wurde ein Stück unterhalb des Durchbruchs ans Ufer gespült. Jede Hilfe kam zu spät.«
Mary nickte. Ihre Augen wurden feucht, und sie wandte verlegen den Blick ab – nicht, weil sie sich ihrer Tränen schämte, sondern weil der Grund dafür ihr unaufrichtig erschien. So sehr sie bedauerte, dass Winston sein Leben gelassen hatte, und obwohl ihr bewusst war, dass sie ihr Überleben zum großen Teil seinem Mut und seiner Geistesgegenwart zu verdanken hatte, hatte ihr allererster Gedanke nicht dem Kutscher gegolten, sondern ihrem eigenen Wohlergehen.
Sir Walter blickte sie prüfend an, als wüsste er genau, was in diesem Augenblick in ihr vor sich ging. »Grämen Sie sich nicht, Mylady«, sagte er leise. »Ich weiß, was Sie empfinden, denn auch ich habe schon Situationen wie diese erlebt. Erst vor kurzem ist einer meiner Studenten auf tragische Weise ums Leben gekommen; tags darauf wäre mein Neffe um ein Haar das Opfer eines Unglücks geworden. Und alles, was ich empfinden konnte, war Dankbarkeit für seine Rettung. Wir alle sind nur Menschen,
Weitere Kostenlose Bücher