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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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wohl deshalb, weil sie sich nicht für ihn interessiert hatten, zum anderen aber auch, weil sein Herz noch nie für ein weibliches Geschöpf geschlagen hatte. Bislang hatte er nur die Bürgertöchter aus Edinburgh und derbe Bauernmaiden gekannt – Mary of Egton jedoch war anders als jede Frau, die er in seinem Leben gesehen hatte. Hätte man ihm gestattet, von nun an für den Rest seines Lebens auf der Schwelle ihres Zimmers stehen und in ihrer Nähe sein zu dürfen, wäre sein Glück vollkommen gewesen.
    Sir Walter war die Faszination seines Neffen für die junge Dame nicht entgangen. Schon Quentins Bitte, nach ihr sehen zu dürfen, war ihm seltsam vorgekommen, zumal seine Besorgnis um das Wohlergehen von Lady Marys Kammerzofe auffallend geringer ausgeprägt war. Die junge Mary of Egton schien Quentins unbescholtenes Herz im Sturm erobert zu haben.
    Die ganze Zeit über hatte der junge Mann nicht gewagt, ihr Zimmer zu betreten – nicht nur, weil es sich nicht gehörte, sondern auch, weil er dazu viel zu schüchtern war. Allein der Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, kurz bevor sie wieder eingeschlafen war, hatte genügt, um sein Herz bis hinauf zum Hals schlagen und seine Wangen erglühen zu lassen.
    »Wird sie wieder gesund werden?«, fragte er seinen Onkel, flüsternd, um die Lady nicht zu wecken.
    »Sei unbesorgt«, erwiderte Sir Walter und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. So teilnahmsvoll hatte er seinen Neffen noch selten erlebt, vor allem nicht in Gegenwart einer jungen Frau. Die Art und Weise, wie er auf der Schwelle stand und die Lady seines Herzens aus der Ferne betrachtete, erinnerte Scott an die Figuren aus seinen Romanen, an die Ritter und edlen Herren, von denen er schrieb und die sich in vornehmer Minne nach den Damen ihrer Herzen verzehrten. Mit dem Unterschied, dass dies kein Roman war, sondern die Wirklichkeit, und dass die Geschichte ohne Zweifel anders enden würde als in Walter Scotts Romanzen.
    »Sie hat einen Schock erlitten, ist aber sonst wohlauf«, beruhigte er seinen Neffen. »Doktor Kerr sagt, dass sie schon bald aufstehen darf.«
    »Das ist gut.« Quentin rang sich ein Lächeln ab. »Es war ziemlich knapp, nicht wahr?«
    »Allerdings.« Sir Walter nickte und legte seine fleischige Rechte auf die Schulter des Jungen. »In all dem Durcheinander und der Aufregung bin ich noch nicht dazu gekommen, dir zu danken, Neffe.«
    »Mir zu danken? Wofür, Onkel?«
    »Du hast gute Arbeit geleistet. Es war deine Idee, die Seile aus dem Werkzeugkasten der Kutsche zu verwenden. Hättest du nicht so schnell und selbstlos gehandelt, wären die beiden Damen jetzt nicht mehr am Leben.«
    Quentin errötete und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er war es nun mal gewohnt, dass man ihn seiner Ungeschicklichkeit wegen schalt. Für etwas gelobt zu werden – noch dazu für eine Tat wie diese – war in der Tat eine neue Erfahrung für ihn. »Es war nichts«, sagte er bescheiden. »Jeder andere wäre auch darauf gekommen.«
    »Wie auch immer«, meinte Sir Walter, während er leise die Tür des Gästezimmers hinter sich schloss. »Du hast dich gestern als wahrer Scott erwiesen, mein Junge.«
    »Ich danke dir, Onkel«, sagte Quentin mit einem Anflug von Selbstbewusstsein. »Aber eigentlich besteht kein Grund, sich zur Rettung der Damen zu beglückwünschen. Immerhin hat es auch ein Todesopfer gegeben. Und die Schurken sind entkommen.«
    »Das ist wahr.«
    »Gibt es schon eine Nachricht von Sheriff Slocombe?«
    »Nein«, erwiderte Sir Walter, während sie die Treppe hinabstiegen und ins Arbeitszimmer gingen, wo es wie immer nach Kaminfeuer und Tabak roch. »Er und seine Leute sind immer noch damit beschäftigt, nach Spuren zu suchen. Unterdessen sind diese Banditen längst über alle Berge.«
    »Und Inspector Dellard?«
    »Soweit ich mitbekommen habe, misst er dem Vorfall keine Bedeutung bei. Er hat es dem Sheriff überlassen, sich darum zu kümmern, obwohl er weiß, dass Slocombe mit dieser Aufgabe völlig überfordert ist. Selbst wenn sich die Spitzbuben in seinem eigenen Whiskykeller verstecken würden, würde er sie nicht finden. Der Scotch würde seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.«
    »Es ist eine Schande«, ereiferte sich Quentin mit für ihn ungewohntem Temperament. »Am helllichten Tag werden wehrlose Reisende von einer Räuberbande überfallen, und der Sheriff ist nicht in der Lage, sie zu fassen.«
    »Möglicherweise waren es Räuber«, sagte Sir Walter nachdenklich.

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