Die Bruderschaft der Runen
Scott stand und sich vom einfachen Pferdeburschen zum Hausverwalter emporgearbeitet hatte. Was den Wert eines Menschen betraf, so legte Lady Charlotte die gleichen Maßstäbe an wie ihr Mann: Nicht die Herkunft war entscheidend, nicht die Abstammung machte einen Menschen zu einem ehrbaren Geschöpf, sondern allein seine Taten.
Während sich Sir Walter für den Rest des Tages in sein Arbeitszimmer zurückzog und dort über seinem neuesten Roman brütete – durch die Vorfälle der letzten Tage war er erheblich in Verzug geraten und musste sich beeilen, um die Termine für die Lieferung der nächsten Kapitel einzuhalten –, führte Lady Charlotte die beiden Besucherinnen durch Abbotsford.
Sie zeigte ihnen die weitläufigen, von Rüstungen und Gemälden gesäumten Hallen, dann die Gärten, die Waffensammlung und die Bibliothek. Letztere versetzte Mary besonders in Entzücken, vor allem, da sie alle ihre Bücher eingebüßt hatte, als die Kutsche in die Fluten des Tweed gestürzt war.
Lady Charlotte gestattete ihr, sich in der Bibliothek umzusehen und sich die Zeit bis zum Dinner mit Lesen zu vertreiben. Während Mary sich gar nicht satt sehen konnte an den zahllosen in Leder gebundenen Schätzen, die in den Regalen schlummerten, sah Kitty den Gärtnerburschen bei der Arbeit zu, die draußen auf der Wiese das Gras mähten und deren nackte Oberarme vor Schweiß glänzten.
Um sieben Uhr läutete die Glocke zum Dinner, und man fand sich im großzügigen Speiseraum des Anwesens ein, in dem eine lange Tafel stand. An den Kopfenden, einander gegenüber, hatten Sir Walter und seine Gattin Platz genommen. Neben Sir Walter saßen Quentin sowie Edwin Miles, ein junger Student aus Glasgow, der zurzeit ebenfalls in Abbotsford weilte. Die beiden Plätze auf Lady Charlottes Seite des Tisches waren unbesetzt – sie waren Mary of Egton und ihrer Zofe vorbehalten. Ursprünglich hatte auch William Kerr zum Essen bleiben sollen. Der Doktor, den Sir Walter als menschenscheuen und nicht eben redseligen Zeitgenossen kannte, hatte es jedoch vorgezogen, am späten Nachmittag nach Selkirk zurückzufahren, nachdem er die jungen Frauen ein letztes Mal untersucht und sich über ihren Gesundheitszustand vergewissert hatte.
Vom Gang waren jetzt gedämpfte Stimmen zu hören, und eine der Dienerinnen führte die Lady of Egton und ihre Zofe herein. Lady Charlotte hatte sie mit Kleidern aus ihrem eigenen Besitz ausgestattet – schlichten Roben aus dunkelroter und grüner Seide, die die strahlende Schönheit der jungen Besucherinnen hervorhoben. Sir Walter entging nicht, dass Quentin vor Staunen der Mund offen blieb, als Mary of Egton den Speisesaal betrat.
»Ich weiß nicht, wie es in Edinburgh gehandhabt wird«, raunte er seinem Neffen daraufhin schmunzelnd zu, »aber wir schlichten Leute vom Land lassen den Mund zu, wenn wir einer Dame gefallen wollen.«
Quentins Gesicht färbte sich schlagartig puterrot. Verlegen blickte er auf seinen Teller und wagte es nicht mehr, die jungen Frauen anzusehen. Edwin Miles hatte weniger Berührungsängste. Wie ein vollendeter Gentleman, als der er gelten wollte, erhob er sich von seinem Sitz und verbeugte sich, um den beiden Damen seine Aufwartung zu machen. Quentin sah das Lächeln, das Lady Mary ihm schenkte, und es ärgerte ihn. Eine dumpfe Ahnung aus den Tiefen seines Bewusstseins sagte ihm, dass es Eifersucht sein musste, die er fühlte. Zum ersten Mal in seinem Leben …
Nachdem sie freundlich in die Runde gelächelt hatte, nahm Mary Platz, und auf einen Wink Lady Charlottes hin wurde der erste Gang des Dinners aufgetragen.
»Ich habe mich für Wildsuppe entschieden«, erklärte Lady Charlotte, während die Dienerinnen zwei Terrinen mit köstlich duftendem Inhalt auftischten. »Ich hoffe, den Geschmack der Damen damit getroffen zu haben.«
»Natürlich«, versicherte Kitty, noch ehe Mary der Etikette entsprechend antworten konnte. »Also, ich weiß nicht, wie's Ihnen geht, aber nach allem, was geschehen ist, bin ich hungrig wie ein Wolf.«
»Kitty«, zischte Mary tadelnd, und ihre Zofe errötete. Sir Walter und Lady Charlotte jedoch lachten.
»Lassen Sie nur, Lady Mary«, beschwichtigte Scott. »In meinem Haus wird ein offenes Wort stets geschätzt. In manchen Gegenden des Königreichs mag es als unschicklich gelten, doch hier in Schottland ist es eine alte Tradition zu sagen, was man denkt. Das ist vielleicht einer der Gründe für die Missverständnisse, die es zwischen Engländern und
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