Die Bruderschaft der Runen
Momente der Sorglosigkeit, und für einige Stunden schien es, als wären die dunklen Wolken, die sich über Abbotsford zusammengezogen hatten, vertrieben worden.
Am nächsten Morgen brachen Mary of Egton und ihre Zofe von Abbotsford auf.
Da ihre Kutsche bei dem Unglück zerstört worden war, hatte Sir Walter seinen eigenen Vierspänner anschirren lassen und ihn den Frauen für die Reise zur Verfügung gestellt. Der Kutscher würde das Gespann zurückbringen, sobald er Lady Mary und ihre Zofe wohlbehalten nach Ruthven gebracht hatte. Außerdem schickte Scott zwei berittene Diener als Geleitschutz mit – weniger, weil er fürchtete, die Damen könnten noch einmal Opfer eines Überfalls werden, sondern weil er nicht wollte, dass sie sich ängstigten. Der Leichnam von Winston Sellers würde zurück nach Egton gebracht werden, wo er bei seiner Familie Ruhe finden würde.
»Wie soll ich Ihnen nur danken, Sir Walter?«, fragte Mary, als sie sich vor dem steinernen Tor von Abbotsford verabschiedeten. »Sie haben mehr für uns getan, als ich jemals vergelten kann.«
»Danken Sie mir nicht zu sehr, Lady Mary«, erwiderte Scott. »Ich habe nur getan, was meine Pflicht war.«
»Sie haben weit mehr als das getan, ebenso wie Ihre Gattin und Ihr Neffe. Sie alle haben uns so freundlich aufgenommen und uns nach diesen schrecklichen Ereignissen wieder Hoffnung gegeben. Ich wünsche mir sehr, dass ich Ihnen all das irgendwann zurückgeben kann.«
»Hoffen Sie das lieber nicht, Mylady«, sagte Sir Walter rätselhaft. Dann winkte er einen seiner Bediensteten heran, der ein großes, in Leder geschlagenes Buch bei sich trug. »Das hier möchte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben, wenn Sie gestatten.«
»Was ist das?«
»Es ist eine Abhandlung über die Geschichte unseres Landes, von den Pikten über das Schicksal der Clans bis zum Schlachtfeld von Culloden. Wenn Sie Schottland und seine Menschen verstehen lernen wollen, müssen Sie dieses Buch lesen.«
Der Diener händigte den schweren Band Mary aus, die ihn vorsichtig entgegennahm und durchblätterte. Das Buch war alt, bestimmt über hundert Jahre, und Mary wagte nicht, seinen Wert zu schätzen. »Das kann ich nicht annehmen, Sir«, sagte sie deshalb. »Gerade spreche ich noch davon, wie tief ich ohnehin in Ihrer Schuld stehe. Sie haben mir schon so viele Ihrer Bücher mitgegeben, und nun wollen Sie mir auch noch dieses zum Geschenk machen?«
»Ich weiß, dass es bei Ihnen in guten Händen ist, Lady Mary. In Ihren Augen sehe ich nicht die Überheblichkeit und die Vorurteile, mit denen viele Besucher aus dem Süden in unser schönes Land kommen. Die Gegensätze zwischen Engländern und Schotten dürfen nicht länger bestehen bleiben. Wir sind ein Land, ein Königreich. Und wenn dieses Buch etwas dazu beitragen kann, so will ich es Ihnen gern schenken.«
Mary fühlte, dass es keinen Sinn gehabt hätte zu widersprechen. Höflich verneigte sie sich und versprach, das Buch in Ehren zu halten.
Dann folgte der Augenblick des Abschieds.
Obwohl sie nur kurze Zeit in Abbotsford verbracht hatte, fiel es Mary schwer, sich von den romantischen Erkern und steinernen Türmen zu trennen, in denen sie vorübergehend ein Zuhause gefunden hatte. Dies war eine Welt, in der sie sich wohl gefühlt hatte und die außerhalb der Mauern nicht mehr zu existieren schien. Eine Welt, in der es noch Anstand, Mut und Ehre gab und in der Menschen nicht nach ihrem Titel beurteilt wurden, sondern nach ihrem Herzen.
Nacheinander verabschiedete sie sich von Sir Walter und Lady Charlotte, danach von Quentin, der ihr dabei nicht in die Augen blicken konnte. Und obwohl es nicht üblich war, verabschiedete sich Mary auch vom Hausgesinde, bedankte sich für jede einzelne Wohltat, die man ihr hatte zuteil werden lassen.
Dann stieg sie in die wartende Kutsche. Mit einem Ruck fuhr das schwere Gefährt an, verließ den Innenhof und rollte hinaus auf die Straße.
Die Scotts und Quentin standen im Tor und winkten, bis die Kutsche um eine Biegung verschwand und der grünende Wald sie verschluckte. Und für einen kurzen Moment glaubte Sir Walter, es in den Augen seines Neffen feucht schimmern zu sehen.
Nicht nur Mary of Egton und ihre Zofe, auch die Familie Scott hatte für einige Stunden Sorglosigkeit erleben, hatte die Trauer und Nöte der zurückliegenden Tage vergessen können.
Mit Lady Marys Abschied kehrte der Alltag zurück – und mit ihm die Furcht.
8.
W as erwarten Sie von mir?« In Charles Dellards
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