Die Bruderschaft der Woelfe
Schlüssel zum Rätsel.
Die Greifer widmen ihr zuviel Aufmerksamkeit. Ihre
Magierinnen umschwärmen den Hügel, heben geduldig
Gräben aus, gestalten diese Rune zu einem Relief und
schmücken sie mit diesem Gestank.
Raj Ahten besaß die Gaben des Geruchssinns Tausender
Männer. Er atmete schwer. Es handelte sich keineswegs um einen einzigen Geruch. Er konnte Myriaden anderer Noten und Düfte erkennen. Das Ganze war eine komplizierte Mischung: Verwesung, verrottendes Fleisch, Rauch, Tod, menschlicher Schweiß, eine reine Symphonie miteinander wettstreitender Gerüche. Er hatte das Gefühl, am Rand der Erkenntnis zu stehen, die Gesamtheit der Gerüche beinahe zu erfassen.
Bestimmt waren die Greifer allein wegen dieser Rune nach Carris gekommen.
Überall krabbelten sie auf den Hängen des Berges herum.
Einer glitt aus und verursachte einen Erdrutsch. Zu Raj Ahtens Entzücken brach ein Teil der Rune zusammen.
Greifermagierinnen eilten hinzu, um sie wieder aufzubauen und erneut einzusprühen.
Da war die Rune, erschreckend nahe. Ein Kind mit einem Hammer hätte sie zerstören können. Raj Ahten gab einem plötzlichen Impuls nach, zerschlug die Fensterscheibe und atmete das feine Gemisch der Gerüche ein, das von der Rune ausging. Eine stete Bö wehte es zu ihm herüber.
Nun schloß er eine Weile lang konzentriert die Augen. Tief sog er die Luft ein. Manche Düfte ließen sich nicht einfach nur als Gerüche übersetzen. Statt dessen drängten sie Gefühle auf.
Ja, Entsetzen. Das war der Geruch, den er wahrnahm.
Die Möglichkeit, daß ein Geruch Gefühle freisetzt, hatte er niemals bedacht.
Der saure Schweiß von jemandem, der dem Tode nahe ist.
Raj Ahten roch ihn und spürte die Verzweiflung des Mannes.
Rauch und Todesqualen. Der salzige Geschmack
menschlicher Tränen. Der ölige Geruch verkohlten Fleisches und noch eine weitere Note: Feldfrüchte, die einem Brand zum Opfer fallen.
Verfall. Eine Leiche, die sich wie eine Melone fast bis zum Platzen aufbläht.
Verzweiflung und Schrecken brandeten wie eine Woge
durch seinen Körper. Der kupfrige Geruch von Blut, das Fruchtwasser einer Frau, Verfall – eine Mutter bringt eine Totgeburt zur Welt. Erschöpfung.
Der saure Geschmack alter Haut. Einsamkeit, die tief, schmerzhaft in den Knochen steckt.
Nach einer Weile lächelte Raj Ahten und hätte beinahe laut gelacht. Jetzt hatte er die Mischung entschlüsselt: Es handelte sich um eine Symphonie menschlichen Leidens, das Buch, in dem das Elend der Menschheit verzeichnet war.
»Es ist eine Beschwörung«, begriff er und erschrak, weil er die Worte laut ausgesprochen hatte.
»Wie bitte?« fragte Herzog Paldane.
»Die Rune«, erklärte der Wolflord. »Sie ist eine Beschwörung, die mit Gerüchen geschrieben wird. Sie soll die Menschheit mit einem Fluch belegen.«
Plötzlich sehnte er sich danach, die Rune zu zerstören, ihre Schöpfer zu töten, das ganze Schandmal mit Wasser reinzuwaschen.
Aber er bezweifelte, ob er dies zustande bringen würde. Die Greifer waren zu schlau, um ihn zu ihrem Altar vorzulassen, zu zahlreich und zu stark, um besiegt zu werden. Ein Kokon schützte die Rune – bis auf einen kleinen Pfad, durch den die Arbeiter gingen.
Er mußte es versuchen.
»Die Greifer mögen zwar bauen«, sagte er, »doch müssen wir ihnen dabei ja nicht friedlich zusehen. Vielleicht schaffe ich es nicht bis zum Knochenhügel, wenigstens aber kann ich sie ein wenig aufmischen.«
KAPITEL 20
Warten auf Saffira
Hoch im Hestgebirge kletterte Borensons Pferd einen
schmalen Pfad herunter. Er führte Saffira und ihre
Wachen über steile Pässe durch das Schneegestöber.
Borenson blickte hinunter in ein kleines Tal und entdeckte eine Herde Elefanten, die taumelnd herumliefen. Die meisten von ihnen waren bereits verendet und lagen da wie große Felsen, die von Eis überzogen waren. Zwei gewaltige alte Bullen sahen zu Saffiras Gefolge hoch, hoben die Rüssel und trompeteten.
Es waren gezüchtete Elefanten, denen man die Stoßzähne abgesägt und die Stümpfe mit Kupfer überzogen hatte. So ausgehungert, wie sie wirkten, würden sie vermutlich dieses Tal über die Berge nicht mehr verlassen können. Ihre Wärter hatten sie im Stich gelassen.
Der Wolflord hatte die Kriegselefanten über das Hestgebirge bringen wollen – was ihm jedoch nicht gelungen war. Dreimal in dieser Nacht hatten sie Armeen von Gewöhnlichen passiert, die ebenfalls das Gebirge überquerten, Bogenschützen und Infanteristen, Waschweiber
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