Die Bruderschaft des Feuers
Schlafzimmer. Ist es nicht üblicherweise das des Familienoberhauptes?«
»Das hätte ich mir ja denken können«, sagte Gabardino mit einer künstlichen Gelassenheit, die genau zeigte, dass ein Sturm im Anzug war. »Wenn Ihr mein Zimmer haben wollt, nehmt es ruhig. Ich begreife nicht, warum Ihr es mir gegeben habt, wenn Ihr mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase reibt, dass es eigentlich Euch zugestanden hätte.«
»Gabardino, darum geht es doch nicht …«
»Doch, genau darum! Am Ende geht es immer nur um eins: um Euch, immer nur um Euch. Ihr verdächtigt alles und jeden, wittert allenthalben böse Machenschaften zu Eurem Schaden, aber die Wahrheit ist, dass Ihr es nicht ertragen könnt, wenn Ihr ins Hintertreffen geratet. Ihr habt bemerkt, dass dieses arme Mädchen anscheinend an mir Gefallen gefunden hat, und schon versucht Ihr, Zwietracht zu säen. Habt Ihr mir nicht erst vor Kurzem gesagt, ich solle mir bald eine Frau suchen? Gut, vielleicht habe ich sie ja gefunden.«
Mondino starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. Dass sein Sohn sich in ein Mädchen von geringerem Stand verliebt hatte, schien ihm augenblicklich das geringste Problem zu sein. Aber dessen Vorwürfe trafen ihn tief in der Seele.
Gabardino zitterte sichtlich. Er schüttelte mehrmals den Kopf, als würde er nach den passenden Worten suchen, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
»Es erstaunt mich nicht, dass Ihr so viele Feinde habt, Vater«, sagte er schließlich, bevor er sich umwandte und das Arbeitszimmer verließ. »Nein, das erstaunt mich wirklich nicht.«
Während seine Schritte auf den Stufen widerhallten, zog es Mondino das Herz zusammen. Er blieb lange sitzen und starrte wie blind das ausgetrocknete Tintenfass an, während sein Kopf in Aufruhr war. Als er endlich aufstehen konnte, ging er mit einer bösen Vorahnung zu der kleinen Truhe, um sie zu öffnen.
Als er den Deckel hob, stockte ihm der Atem: Die kleinsten Knochen waren verschwunden.
Nachdem er Mondinos Haus verlassen hatte, war Gerardo den ganzen Nachmittag durch die Stadt gestreift und hatte überall nach Masino gesucht, auch an den verrufensten Orten. Er hatte sogar seinen Dolch mitgenommen, falls er ihn kämpfend befreien müsste. Inzwischen war es Abend geworden, und es hatte zu regnen begonnen. Er musste sich seine Niederlage eingestehen.
Während er mit hängenden Schultern zum Waisenhaus zurückkehrte, fiel der Regen wieder stärker. Einerseits war es ein Segen: Der Regen würde die Straßen wesentlich besser vom Schnee reinigen als die Trupps von freiwilligen Helfern. Andererseits konnten ebenerdige Lagerräume und Keller überflutet werden. Gerardo hoffte inständig, dass Masino nicht in einem unbewachten Keller vor der Kälte Unterschlupf gesucht hatte.
Die Vorstellung, wie er frierend, vielleicht in Gefahr, allein in dieser Stadt herumirrte, wo er schon einmal entführt und verkauft worden war, war ihm schier unerträglich. Obwohl er die Gründe, die den Knaben in die Flucht getrieben hatten, verstand, konnte er nicht begreifen, dass der Junge, dem er so zugetan war, einfach verschwunden war, ohne einen Gedanken an ihn zu verschwenden.
Er fühlte sich betrogen. Nicht nur von Masino, sondern vom Leben selbst.
Warum konnte nie etwas klar und eindeutig sein? Warum musste man immer für alles kämpfen? Gerardo beneidete die Menschen, die ihr eigenes Schicksal nie infrage stellten. Der Sohn eines Schuhmachers wurde ebenfalls Schuhmacher. Die Söhne von Kaufleuten folgten dem Weg, den ihre Eltern vorgegeben hatten. So fanden sie schon einen gut gehenden Betrieb vor, mussten nicht bei null beginnen, und vor allem mussten sie sich nicht damit quälen herauszufinden, was ihr Lebensziel war.
Gerardo war der zweite Sohn eines kleinen Landadeligen, der ertragreiche Liegenschaften in der Provinz Ravenna besaß. Der Erstgeborene würde das Familiengut einmal erben, während man für ihn bestimmt hatte, er sollte Mönch werden, ein Kirchenamt übernehmen und ein ruhiges Leben führen.
Stattdessen hatte er von den Kreuzzügen geträumt und war zwar Mönch geworden, aber Templer. Dann, als dieser Traum mit dem Untergang des Ordens in sich zusammengebrochen war, hatte er beschlossen, sich um Masino und die anderen Kinder des Waisenhauses zu kümmern. Nicht aus Berufung, sondern um sich nicht den Fragen stellen zu müssen, die ihm durch den Kopf schwirrten. Jetzt, da der Junge verschwunden war, war
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