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Die Bruderschaft des Feuers

Die Bruderschaft des Feuers

Titel: Die Bruderschaft des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfredo Colitto
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ihm das alles klar geworden.
    Gerardo blieb ruckartig stehen und lehnte sich an die viereckige Säule eines Bogengangs, weil ihn ein Gedanke überfiel. Masinos Flucht war nichts anderes als das, was er seinen Eltern angetan hatte. Er hatte sein Zuhause verlassen, ihre Erwartungen betrogen, er ließ sie ständig im Unklaren darüber, was einmal aus ihm werden sollte. Seine Mutter hatte ihm zahlreiche Briefe geschrieben, in denen sie ihn bat zurückzukommen. In diesen Briefen bemühte sie sich, für die Beweggründe ihres Sohnes Verständnis zu zeigen, aber sie forderte ihn auch auf, er solle versuchen, ihre mütterlichen Sorgen zu verstehen. Gerardo wurde schamrot, wenn er dachte, welche Demütigung es für sie gewesen sein musste, einem Schreiber ihre Gefühle zu offenbaren. Und er hatte sich noch erlaubt, die Antwort hinauszuschieben. Der letzte Brief war vor einem Monat gekommen. Er hatte ihn gelesen, ihn dann wieder zusammengerollt und sich gesagt, dass er ihr schreiben würde, sobald er klare Vorstellungen von seiner Zukunft hätte. Doch jetzt überlegte er, dass er diese Klarheit vielleicht nie erlangen würde. Vielleicht bestand das Leben ja auch nur darin, ständig voranzuschreiten, und das auch ohne einen wahren Grund. Und je mehr Fragen man sich stellte, desto mehr war man verdammt zu leiden.
    Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Aus dem Hof einer Schenke kamen zwei nicht gerade vertrauenerweckend aussehende Männer in seine Richtung. Sie waren barfuß, ärmlich gekleidet und trugen trotz des Regens keine Kopfbedeckung, doch der Knüppel, den der eine in der Hand hielt, zeigte deutlich, dass sie ihn nicht etwa um Almosen bitten wollten. Gerardo ließ seine Hand unter die Cotte gleiten, zog seinen Dolch und machte einen Schritt auf sie zu. Die beiden blieben stehen und tauschten einen vielsagenden Blick, bevor sie sich eilig davonmachten, um sich eine leichtere Beute zu suchen.
    Er sollte besser rasch ins Kloster zurückkehren. Je später der Abend, desto unsicherer wurde es auf den Straßen. Bei diesem Hundewetter waren nur Verbrecher unterwegs oder Verzweifelte wie er. Gerardo steckte den Dolch zurück, zog allerdings den Lederriemen, der ihn in der Scheide hielt, nicht wieder fest und nahm erneut seinen Weg auf, wobei er zwar auf jede Bewegung achtete, aber dennoch weiter seinen Überlegungen nachhing. Jetzt war der Damm gebrochen, und er konnte sich den Gedanken nicht mehr verschließen.
    Vielleicht sollte er besser aufhören, seinen Eltern Schmerz zu bereiten. Schließlich hatte er inzwischen begriffen, dass aus ihm bestimmt kein Benediktinermönch werden würde. Mit Masinos Verschwinden konnte man seine Klostererfahrung als beendet ansehen. Er würde noch vierzehn Tage warten, bis zum neuen Jahr, in der Hoffnung, dass der Junge sich doch noch zur Rückkehr entschlösse. Dann würde er, mit ihm oder ohne ihn, nach Hause zurückkehren. Wie der verlorene Sohn.
    Seine Eltern würden ganz bestimmt auch das Mastkalb schlachten.
    Als er auf den kleinen Platz kam, der die Kirche San Procolo vom gleichnamigen Kloster trennte, hörte er wieder ein Rascheln in der Dunkelheit. Ohne zu zögern, zog er seinen Dolch und stellte sich mit dem Rücken zur Wand.
    »Ich bin es, Messere«, sagte eine Frau mit Kapuze, die sich aus dem Schutz eines Haustors löste und auf den Bogengang zulief. »Clara.«
    Gerardo versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, und steckte seinen Dolch erst wieder in die Scheide, als die Frau die Kapuze ihres Umhangs abgestreift hatte und man ihre kastanienbraunen Haare sah. Sie war es tatsächlich.
    »Was tut Ihr hier?«, fragte er. »Masino …«
    »Masino ist bei mir zu Hause«, sagte Clara. In dem menschenleeren Bogengang überdeckte ihre Stimme kaum das Geräusch des Regens. »Ich hatte ihm erklärt, wo ich arbeite, um ihn zu beruhigen und damit er meine Lage versteht. Ich hätte nicht geglaubt, dass er fortlaufen würde, um zu mir zu kommen.«
    Die kalte Mauer, an der Gerardo lehnte, die regendurchnässte Cotte, die eiskalten Füße vereinten sich zu einem Gefühl, von dem Gerardo nicht wusste, ob es Zorn oder Erleichterung war. »Ich suche ihn seit gestern«, sagte er leise. »In der ganzen Stadt.«
    Sie kam einen Schritt näher, als wollte sie trotz der Dunkelheit sein Gesicht besser erkennen. Gerardo entzog sich ihrem prüfenden Blick nicht, und so sahen sie sich einen langen Moment an. Claras Augen waren wie große haselnussbraune Seen, und in ihnen lag so etwas wie

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