Die Bruderschaft des Feuers
Medizintasche, die er immer bei sich trug. Vorsichtig entkorkte er eine Glasampulle, die in einen Holzkasten eingelassen war, damit sie nicht zerbrach. Er kniete sich neben den Arbeiter und führte die Ampulle mehrfach unter dessen Nase vorbei, bis der Mann hustete und die Augen aufschlug.
Aus der Menge der anderen Arbeiter erhob sich bewunderndes Raunen.
Der Mann setzte sich auf und stammelte Dankesworte. Inzwischen war ein Aufseher hinzugekommen, der alle in drohendem Ton ermahnte, wieder an die Arbeit zu gehen. Die Menge löste sich auf, und der Arbeiter, der noch auf dem Boden hockte, machte Anstalten, sich zu erheben. Mondino erklärte dem Aufseher jedoch, dass der Mann erst eine Arznei einnehmen müsse, bevor er wieder in der Lage sein würde, Säcke zu transportieren, und dieser entfernte sich daraufhin widerspruchslos. Danach beugte sich Mondino wieder zu dem Mann hinunter und drückte ihm zwei Münzen in die Hand, während er mit leiser Stimme auf ihn einredete. Der Mann nickte, bedankte sich noch einmal, stand auf und ging unsicheren Schrittes in Richtung Tür.
»Schickt Ihr ihn wirklich zu einem Gewürzkrämer, um sich eine Medizin zu kaufen?«, fragte der Capitano del Popolo, der neben ihm stand.
»Ich habe ihn in ein Wirtshaus geschickt, damit er dort einen Teller Schmorfleisch und einen Becher Wein zu sich nimmt«, antwortete Mondino. »Essen ist die beste Arznei gegen Hunger.«
Visdomini lächelte. »Ihr gleicht keinem der Ärzte, die ich kenne.«
»Reden wir nicht mehr davon«, entgegnete Mondino brüsk, Komplimente machten ihn immer verlegen. »Wenden wir uns wieder unserer Leiche zu.«
Dieses Mal brauchte er kein Chirurgenmesser, und Mondino hatte diesmal ohnehin nicht die Absicht, darum zu bitten, dass man die Leiche in seine Schule bringen sollte. Er untersuchte die sterblichen Überreste von Giovanni da San Gimignano an Ort und Stelle, genauso eingehend wie vorher die Leiche von Bertrando Lamberti, aber er kam zu dem gleichen Ergebnis. Der Mann war bei lebendigem Leibe verbrannt, wie die verzerrten Muskeln seines Gesichts und der aufgerissene Mund bezeugten. Vielleicht hatte er auch geschrien, doch niemand hatte ihn gehört. Hemd und Unterhosen, falls er welche angehabt hatte, waren mit ihm verbrannt, während große Teile seiner Kutte kein Feuer gefangen hatten und immer noch Knochen und Asche bedeckten. Die auf dem Boden verstreuten Papiere hatten die Kaufleute schon geordnet und wieder auf ihren Platz in der Wandnische mit Regalen für die Bücher gelegt. Nichts in der Umgebung der Leiche ließ auch nur im Entferntesten vermuten, dass hier ein Brand gewütet hatte. Der Tisch und der umgestürzte Schemel waren vollkommen unversehrt. Die Gänsefeder in der Schreibkassette war, vielleicht aufgrund der Rauchentwicklung, von einer schmierigen Schicht bedeckt, doch andere Anzeichen für Feuer gab es nicht.
Sobald man die Leiche weggebracht und den Schemel wieder aufgestellt hätte, würde niemand annehmen, dass in dem Raum etwas Besonderes vorgefallen wäre. Konnte das wirklich die Tat eines Menschen sein?
Als Mondino die linke Hand des Priesters vom Boden aufhob, bemerkte er überrascht eine seltsame Reihe von Verletzungen. Eine punktförmige Einritzung auf jedem Fingerglied, während in der Mitte der Handfläche mit einem scharfen Gegenstand zwei Buchstaben, ein X und ein P, eingeritzt waren, die sich mit einem grob skizzierten Kreis überschnitten.
Zwischen zwei Fliesen des Fußbodens entdeckte Mondino eine kleine, grifflose Klinge, vielleicht ein Federmesser, das zu einer Schreibkassette gehörte. Offenbar hatte Giovanni da San Gimignano sich damit die Verletzungen an der Hand zugefügt und es dann fallen gelassen.
Er zeigte dem Capitano del Popolo die Hand. »Der Tote muss das für eine wichtige Botschaft gehalten haben, wenn er bereit war, sie in sein eigenes Fleisch zu ritzen und sich noch im Tod weitere Schmerzen zuzufügen.«
»Warum glaubt Ihr, dass er es selbst getan hat?«
Die Frage war berechtigt. Es konnte auch der Mörder gewesen sein. Und dennoch passte das nicht zu der Vorstellung, die sich Mondino gemacht hatte.
»Der Mann, der Bertrando Lamberti getötet hat, hat überhaupt keine Nachricht hinterlassen«, erwiderte er. »Es ist nicht logisch, dass er hier anders vorgegangen sein soll.«
»Vielleicht habt Ihr recht«, meinte Visdomini und sah sich die Hand näher an. »Die Buchstaben in der Mitte muss der Tote sich eingeritzt haben, um das Böse von ihm
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