Die Bruderschaft des Feuers
Bewegungen sind langsamer geworden. Ich werde hierbleiben, wenn Ihr es gestattet.«
»Wir werden uns abwechseln, einverstanden?«, erwiderte Mondino. »Ihr geht jetzt und ich später. Ruht euch richtig aus, bevor ihr zurückkommt. Wenn ich nicht sehe, dass ihr euch erholt habt, schicke ich euch zurück.«
»Ja, Magister«, sagten die beiden beinahe einstimmig. Dann drehten sie sich um und verließen den Raum.
Aufgrund der Stimmen, die aus der Küche kamen, begriff Mondino, dass sich auch Gabardino und die Tochter des Zimmermanns dort aufhalten mussten. Odofredo und Andolfo unterrichteten alle über den Zustand des Patienten, doch irgendwann wurden sie leiser, und Mondino hörte nichts mehr.
Er ging wieder zum Tisch und untersuchte den dort liegenden Körper. Vom Hals abwärts war keine Muskelspannung zu bemerken, ein Zeichen dafür, dass die Nerven am unteren Ende des Gehirns und im Hirnstamm, die die Bewegungen steuerten, zerrissen waren.
Selbst wenn Paolo il Tosco überlebte, würde er vom Hals abwärts gelähmt bleiben. Er würde nicht mehr arbeiten können und müsste gefüttert, gesäubert und versorgt werden müssen wie ein Neugeborenes. Sein Leben würde für alle in seiner Umgebung zur Belastung und auch für ihn selbst.
Mondino hatte genau begriffen, was Andolfo mit seiner Frage am Nachmittag gemeint hatte. Er hatte ihm mit dem Eid des Hippokrates geantwortet, weil nicht die Zeit gewesen war, sich in eine Diskussion zu vertiefen, und weil ein Lehrer den Respekt seiner Schüler verlieren würde, wenn er mit ihnen von Gleich zu Gleich diskutierte. Doch diese Frage hatte er sich selbst bereits oft gestellt. Wie weit durfte man gehen in dem Versuch, menschliches Leben zu retten?
Sicher, selbst wenn der Körper gelähmt war, erloschen die Lebensfunktionen nicht. Das Herz schlug weiter, der Magen verdaute, der Darm verarbeitete die Nahrung und schied die Abfallstoffe durch die entsprechenden Organe aus. Aber konnte man die ständige Abfolge solch mechanischer Prozesse wirklich als Leben bezeichnen?
Während er den Körper dieses kräftigen Mannes mit dem dichten schwarzen Schnurrbart betrachtete, der jetzt wieder sehr unregelmäßig atmete, fiel ihm etwas ein, das er in seiner Abhandlung über die Anatomie geschrieben hatte, und zwar in dem Teil über das Gehirn.
Er wusste, dass im dritten Hirnventrikel die Fähigkeit zum Denken und die Vernunft angesiedelt waren, die gemeinsam die Fantasie und die Erinnerungen erzeugten, indem sie voneinander trennten, was durch die Sinne wahrgenommen wurde und was nicht. Der vierte, wie eine Pyramide geformte Ventrikel von breiterer Basis empfing den lebendigen Geist und bewahrte in seiner Spitze die Bilder, woraus sich die Fähigkeit ergab, sich zu erinnern.
Vielleicht war das eine bessere Antwort als der Eid des Hippokrates und mehr im Einklang mit dem wissenschaftlichen Gedanken. Selbst wenn der Körper des Zimmermanns gelähmt war, zweifelte Mondino nicht daran, dass der Mann, vielleicht auch nur in seinem Inneren, mit den Augen des Verstandes Bilder sah, Erinnerungen noch einmal erlebte und vielleicht sogar Hoffnungen hegte.
Dies war jedoch keine Gewissheit und ließ sich nicht beweisen.
Doch selbst wenn nicht feststand, dass es so war, hatte der Arzt die Pflicht, die Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten.
Mondino blieb keine Zeit, sich an seinen gelehrten Überlegungen zu erfreuen, denn Paolo il Tosco hatte, nachdem er zwei oder drei Mal keuchend Luft geholt hatte, aufgehört zu atmen. Der Arzt berührte seinen Hals oberhalb der Schlagader und spürte dort keinen Pulsschlag. Da sich die Lungen nicht mehr mit Luft füllten oder sie ausstießen, war das Herz stehen geblieben. Dennoch war das Leben noch nicht aus ihm gewichen, wie das Flattern der geschlossenen Lider anzeigte. Vielleicht würden die Lebensfunktionen wieder in Gang kommen, wenn man den Patienten zwingen könnte zu atmen. Aber wie sollte man Luft in Lungen füllen, die das nicht von selbst tun wollten?
Mit den Lungen eines anderen Menschen! Diese Antwort zuckte auf einmal durch seinen Kopf, blitzte auf wie alle genialen Gedanken. Ohne zu zögern, atmete Mondino tief ein, legte seine Lippen fest auf Paolos Mund, wobei er nur bei der Berührung seines Schnurrbarts ein wenig Ekel empfand, und blies kräftig hinein.
Die Lungen des Patienten füllten sich nicht, und fast die gesamte Luft entwich durch die Nase. So funktionierte es nicht. Mondino gab jedoch nicht auf. Er füllte seine Lungen wieder mit
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