Die Bruderschaft des Feuers
herrschte.
Während er auf seine Studenten wartete, beschäftigte er sich wieder mit dem Handabdruck des Mönchs auf dem Papier. Er hatte mit bester Tinte die Umrisse und die Punkte nachgezogen, an denen die Zeichnung etwas verwischt war, vor allem beim Ohrfinger, den viele kleinen Finger nannten, weil ihnen die Anspielung auf seine Verwendung zum Säubern der Ohren peinlich war. Auf diesem Wege hatte er eine fast perfekte Abbildung der ganzen Hand erhalten.
Doch leider hatte ihn das trotzdem nicht weitergebracht.
Aus dem unteren Stockwerk drangen die hellen Stimmen von Leone und Ludovico zu ihm herauf. Die beiden Jungen hatten heute zu Hause bleiben wollen, anstatt zu ihrem Präzeptor in den Unterricht zu gehen. Mondino hatte es erlaubt und sie Gabardino und Viviana zur Begleitung gegeben, um den Anstand zu wahren. Er hatte durchaus bemerkt, wie sein ältester Sohn das Mädchen ansah, und wollte vermeiden, dass sich zwischen den beiden etwas Unschickliches zutrug.
Schließlich hörte er Schritte auf der Treppe und Andolfos und Odofredos Stimmen. Mondino schob das Blatt mit der Zeichnung in eine Ecke des Schreibtisches und stand gerade auf, um sie zu begrüßen, als sie auch schon das Arbeitszimmer betraten. Er ließ sie auf zwei Stühlen Platz nehmen, dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand neben dem Fenster.
»In den letzten Tagen habt ihr medizinische Erfahrungen von unschätzbarem Wert gesammelt«, begann er. »Und ich vertraue darauf, dass eure theoretische Vorbereitung für das examen morgen vor dem Lehrkollegium genügen wird.« Er machte eine Pause, sah einen nach dem anderen an und war froh, keine Unsicherheit in ihren Gesichtern zu lesen. »Aber um gute Ärzte zu sein, genügt es nicht, die Prüfungen zu bestehen. Es ist mindestens genauso wichtig, keine Vorurteile zu haben. Deshalb werden wir heute den Unterricht anders gestalten als sonst.«
»Worüber werden wir sprechen, Magister?«, fragte Odofredo.
Als Mondino bemerkte, dass Andolfo mit offenem Mund das Fenster anstarrte, sagte er: »Konzentriert euch bitte. Ich habe dort Glas einsetzen lassen, damit ich das Tageslicht auch dann nutzen kann, wenn es zu kalt ist, um die Läden offen stehen zu lassen. So ist es wesentlich besser als vorher mit der Stoffbespannung.«
»Glas sollte nur in Gotteshäusern Verwendung finden«, sagte der Ire, »und nicht in den Häusern von Menschen.«
»Glas findet sich fast nur in Kirchen, weil es sehr teuer ist«, entgegnete Mondino, der sich deutlich anstrengen musste, um nicht die Geduld zu verlieren. »Aber die Glasermeister verkaufen es jedem, der es bezahlen kann. Doch jetzt wieder zurück zum Thema. Als ich gesagt habe, dass wir den Unterricht anders als sonst gestalten werden, habe ich damit nicht gemeint, dass ihr ohne Erlaubnis drauflosreden dürft.«
»Was habt Ihr denn gemeint?«, fragte Odofredo, wahrscheinlich ohne dass ihm bewusst war, dass er sich schon wieder ungefragt geäußert hatte.
»Ich werde weder aus Avicennas Kanon der Medizin noch aus einem anderen klassischen Text lesen. Und ich werde nicht die gewöhnliche Ordnung für die quaestiones einhalten. Ihr könnt frei eure Fragen stellen, aber nur, wenn sie das Unterrichtsthema betreffen, und das wird das menschliche Gehirn sein.«
»Woraus werdet Ihr dann lesen?«, fragte der Deutsche noch einmal.
»Jetzt reicht es, Odofredo!«, platzte Mondino der Kragen. »Wenn du unbedingt reden willst, dann erkläre uns einmal, worin der Mensch sich von den anderen Lebewesen unterscheidet und warum er eine aufrechte Statur besitzt.«
Er erkannte, dass er nicht nur wegen der Ungezogenheit seiner Studenten so gereizt war. Mittlerweile hatte er begriffen, was Azzone damit bezweckte, als er ihm den verletzten Zimmermann ins Haus gebracht hatte: Er wollte ihn ans Haus fesseln, damit die Zeit, die ihm der Podestà zur Auffindung von Bertrando Lambertis Leichnam zugestanden hatte, ungenützt verstrich. Und er musste zugeben, dass dies ein schlauer Plan war. Bei einem Patienten in diesem Zustand trat für ihn alles andere dahinter zurück.
»… in Form und Stellung der Glieder, im Verhalten oder den Fähigkeiten und in den Gliedern selbst«, sagte Odofredo gerade. »Der Mensch besitzt eine aufrechte Statur, weil er eine schaumige, luftige Substanz hat, und ist deshalb in der Lage, sich zu höheren Formen aufzuschwingen. Zum zweiten hat er gegenüber anderen Lebewesen gleicher Größe mehr Wärme, und auch das dient dazu, ihn zu höheren
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