Die Bruderschaft des Feuers
unterbrach sich, als er sah, dass Andolfo die Zeichnung mit der Hand von Giovanni da San Gimignano betrachtete. »Andolfo, zwing mich nicht, dir auch in meinem Haus einen Strafzoll aufzuerlegen«, sagte er, inzwischen am Ende seiner Geduld angelangt.
»Verzeiht, Magister. Ich wusste nur nicht, dass Ihr Euch auch für Musik interessiert.«
»Musik?«, fragte Mondino verblüfft. »Wie kommst du denn darauf?«
Zu hohen Feiertagen lauschte er gerne den Gregorianischen Gesängen in der Kirche, und wenn er bei einem Doktorschmaus war, ließ er keine Gelegenheit aus, die Farandole zu tanzen, auch wenn er nie den Takt halten konnte. Doch abgesehen davon war Musik für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.
Andolfos Gesicht verfinsterte sich. »Wozu braucht Ihr wohl eine Guidonische Hand«, sagte er und zeigte auf die Zeichnung, »wenn Ihr nicht singen lernen wollt? Daran ist doch nichts Schlimmes, Magister, obwohl Ihr kein Priester seid. Gottes Lob zu singen steht allen frei.«
Mondino hatte nicht die Absicht, ihm zu erklären, woher er die Zeichnung von der »Guidonischen Hand«, wie Andolfo sie nannte, hatte. Dessen Geist war zu beschränkt, um etwas Derartiges begreifen zu können. Außerdem hatte sein Schüler vielleicht in dieser Hand etwas gesehen, was ihm selbst entgangen war, und er wollte erreichen, dass er ihm dies erklärte, ohne ihn zu verschrecken.
»Ach, ich habe diese Zeichnung bei einem Manuskripthändler erworben«, log er. »Mir war aufgefallen, mit welcher anatomischen Genauigkeit die Hand dargestellt ist. Aber könntest du mir vielleicht erklären, was der Ausdruck ›guidonisch‹ bedeutet?«
Auch Odofredo war wieder aufmerksam geworden. Mondino hatte den Eindruck, dass vor allem das Interesse vonseiten seines talentierteren Studiengefährten bewirkt hatte, dass die Wangen Andolfos jetzt noch röter leuchteten als seine Haare.
»Dabei handelt es sich um ein System, um Musik zu erlernen«, erklärte er, »welches vor vielen Jahren von dem Benediktinermönch Guido von Arezzo erfunden wurde. Mittlerweile ist es in allen Kirchen verbreitet, doch zunächst wurde Guido deswegen heftig angefeindet.«
»Das Schicksal aller Erneuerer«, kommentierte Odofredo philosophisch. »Aber wie kann diese Hand einem helfen, die Musik zu verstehen?«
»Diese Zeichen am unteren Ende der Fingerglieder stellen die sechs Noten des Hexachords dar. Jeder Note entspricht ein Punkt auf der Hand. So kann man sie sich leichter merken und sie wiedergeben.«
»Meinst du die Noten von diesem System mit den vier Linien?«, fragte Mondino, der immer noch nicht genau verstand.
»Sehr richtig. Jeder dieser Punkte auf den Fingergliedern entspricht, ausgehend vom Daumen, einer Note und einer Oktav.« Während er auf die Zeichnung zeigte, intonierte er leise: »Ut, re, mi, fa, sol, la. Wie Ihr wisst, sind das die Anfangssilben der Verse des Johannes-Hymnus und …« Er verstummte, als er ihre verblüfften Gesichter sah, zögerte einen Moment, dann holte er tief Luft und sang: » Ut queant laxis Resonare fibris Mira gestorum Famuli tuorum Solve pulluti Labii reatum, Sancte Iohannes «, wobei er die erste Silbe jeder Verszeile betonte.
Damit deine Diener mit freien Stimmen die Wunder deiner Taten besingen können, lösche die Sünde von ihren befleckten Lippen, oh heiliger Johannes, übersetzte Mondino im Geist mit. War vielleicht das der Schlüssel, der zu dem Mörder von Bertrando und Giovanni da San Gimignano führte?
»Ich verstehe gar nicht, was du in einer Medizinschule willst«, bemerkte Odofredo. »Du bist doch schon ein halber Mönch, kennst dich in der Musik aus und hast dazu eine schöne Stimme.«
Andolfo starrte ihn wütend an und wollte ihm schon eine scharfe Antwort erteilen, aber als ihm klar wurde, dass in den Augen seines Studiengefährten gar kein Spott zu sehen war, errötete er nur noch tiefer. »Ich möchte auch den Körper retten, nicht nur die Seele«, sagte er leise.
»Es sind nur sechs Noten«, unterbrach sie nun Mondino, der die Zeichnung mit neu erwachtem Interesse betrachtete. »Doch am Ende der Fingerglieder sind deutlich mehr Zeichen zu sehen. Warum das?«
Andolfo zuckte mit den Achseln. »Wegen der Halbtöne«, sagte er. »Noten, die zwischen zwei Tönen liegen und sich b molle und b durum nennen. Aber weiter bin ich bei meinem Musikstudium nicht gekommen.«
»Und die Buchstaben in der Mitte der Handfläche«, fragte Mondino, »was stellen sie dar?«
»Sie bilden den Namen Jesu, aber ich nehme
Weitere Kostenlose Bücher