Die Bruderschaft des Feuers
Ebenen zu erheben.«
»Es gibt vier Gründe«, sagte Mondino. »Du hast erst zwei aufgezählt. Andolfo, welches sind die fehlenden?«
»Der Mensch besitzt eine vollkommene Form, die er mit den Engeln teilt«, sagte der Ire sogleich. »Daher muss er der Höhe zugewandt sein im Einklang mit dem Universum, das ebenfalls nach oben strebt. Und schließlich hat er eine aufrechte Form und Statur erhalten, weil er dazu bestimmt ist zu verstehen.«
»Sehr gut«, lobte Mondino. »Jetzt sagt mir: Wie weit darf die Medizin in dem Versuch gehen, diese vollkommene Schöpfung Gottes zu schützen?«
»So weit wie möglich«, antwortete Odofredo sofort. »Die einzige Grenze sind die Möglichkeiten der Wissenschaft.«
»Andolfo?«
»Ich habe verstanden, was Ihr vorhabt, Magister«, sagte der Ire und warf ihm einen feindseligen Blick zu. »Ziel dieser Lektion ist nicht, uns darauf vorzubereiten, Ärzte zu werden, sondern uns davon zu überzeugen, nicht der Inquisition zu hinterbringen, was wir gesehen haben.«
Mondinos Reaktion verwunderte vor allem ihn selbst. Anstatt wütend aufzufahren angesichts einer Äußerung, die nicht nur eine Frechheit, sondern tatsächlich eine grobe Beleidigung war, verharrte er reglos und schweigend, als hätte ihn der Blick eines Basilisken gestreift. Das Schlimmste daran war, dass Andolfos Worte einen wahren Kern enthielten. Mondino gestand sich das erst in diesem Moment ein: Im vergangenen Frühjahr war er nur um Haaresbreite den Fängen der Inquisition entgangen, und die Kirche hatte nun einmal ein langes Gedächtnis. Falls man ihn erneut anklagte, so fürchtete er, würde nicht einmal die Weitsicht des Erzbischofs von Ravenna ausreichen, um ihn zu beschützen. Deshalb hatte er diese Lektion fast unwillkürlich auf die Absicht ausgerichtet, die Andolfo soeben genannt hatte.
»Das stimmt«, gab er zu, während ihn seine Studenten verblüfft anstarrten. »Aber ich wollte es nur mit wissenschaftlichen Begründungen erreichen, ohne dialektische Winkelzüge und ohne meine Stellung als Lehrmeister auszunutzen. Meiner Überzeugung nach wäre es ein großer allgemeiner Verlust, sollte die Methode, die ich eben erst gefunden habe, um einem Körper an der Schwelle zum Tode wieder Leben einzuhauchen, als unzulässig erklärt werden, noch ehe ihre tatsächliche Wirksamkeit erprobt wurde.«
»Und wenn es Euch nicht gelingt, uns zu überzeugen?«, fragte Andolfo, hochrot vor Verlegenheit, aber gleichzeitig offenbar fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.
Mondino seufzte, dann sah er ihn aufrecht und entschlossen an. »In dem Fall fordere ich euch auf, sofort dem Inquisitionsgericht alles zu berichten, was ihr vor zwei Nächten beobachtet habt.«
Die beiden wechselten einen Blick, als zweifelten sie am Ernst seiner Worte.
»Ein Prozess kann der schnellste Weg sein, um die neue Methode zu verbreiten«, erklärte Mondino. »Man wird darüber sprechen, und viele Ärzte werden den Wunsch haben, sie zu erproben. Hat sie sich erst einmal durchgesetzt, wird die Kirche sie zulassen. So etwas geschieht nicht zum ersten Mal, und es wäre auch nicht das letzte Mal.«
»Aber in der Zwischenzeit könntet Ihr zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt werden«, sagte Andolfo und fuhr sich mit der Hand über seine Tonsur.
Mondino nickte. »Deshalb würde ich auch vorziehen, wenn man mir nicht den Prozess macht. Aber ich habe nicht die Absicht zu leugnen, was ich getan habe. Das liegt nicht in meiner Natur.«
»Also wollt Ihr wissenschaftlich beweisen, dass es keine Magie ist, wenn man in einen toten Körper Luft hineinbläst, um ihn zu neuem Leben zu erwecken«, sagte Odofredo. »Richtig?«
Mondino schüttelte den Kopf. Anscheinend würde die Diskussion doch längere Zeit in Anspruch nehmen. »Falsch. Erstens, keiner außer Christus oder einem seiner Heiligen kann einen Toten wiederauferstehen lassen. Paolo il Tosco war nicht tot, als ich Luft in seine Lungen geblasen habe. Und zweitens müsst ihr das Abschlussexamen ablegen, daher ist es an euch zu beweisen, dass es keine Zauberei ist, was ich getan habe.«
»An uns?« Andolfos Bestürzung war fast komisch anzusehen.
»Ja. Und bemüht euch, überzeugend zu sein. In der medizinischen Praxis werdet ihr oft umstrittene Entscheidungen treffen müssen. Nur mit einer soliden wissenschaftlichen Basis könnt ihr demütig genug bleiben, um zu begreifen, dass ein Arzt nur ein Werkzeug in den Händen Gottes ist, so wie jeder andere Mensch auch.« Er
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