Die Bruderschaft des Schmerzes
Gefühl, von der Welt abgeschnitten zu sein. Ihm war, als sei er in den Mutterleib zurückgekehrt. Decke und Wände waren mit dickem schwarzem Samt bespannt, so daß die Raumgrenzen schwer zu bestimmen waren. Das einzige Licht im Zimmer kam von einem großen, offenen Feuer, das in einem schweren Messingkorb flackerte und ungewiß schwankende Schatten auf die Wandbespannung warf. Vor dem Feuerkorb stand ein roh behauener, hüfthoher, hölzerner Altar; seine Oberseite war zerfurcht und fleckig. Auf dem Altar ruhten eine kleine, scharfe Axt und ein langes, dünnes Schwert. Der Anblick behagte Fraden nicht. Er behagte ihm überhaupt nicht.
Die Draperie auf einer Seite des Feuers teilte sich, und eine mächtige Gestalt mit einem langen, schwarzen Umhang und einer Haube über dem Kopf betrat den Raum: Moro. Zehn ähnlich gekleidete Gestalten folgten dem Propheten des Schmerzes in das Zimmer. Ein Mann hielt einen weißen Umhang in den Händen, ein anderer einen schwarzen. Der letzte in der Reihe zog den Vorhang wieder an seinen Platz zurück.
Moro ergriff die weiße Robe, watschelte zu Fraden hinüber und gab ihm den Umhang. Dabei sagte er: „Unser zukünftiger Bruder wird jetzt die Robe der Unschuld anlegen. Der zukünftige Bruder muß wissen, daß es seinen augenblicklichen Tod bedeutet, wenn er irgendwann im Verlaufe der Zeremonie etwas sagt …“
Nervös streifte Fraden den weißen Umhang über. Man muß bei diesem Blödsinn einfach mitspielen, sagte er sich. Ganz gleich, wie es läuft, spiel einfach mit. Er fragte sich, was Vanderling, der über den Minisender alles miterleben konnte, wohl über diesen Mummenschanz denken mochte. Wahrscheinlich spricht es seinen überempfänglichen Sinn für das Primitive an, dachte Fraden.
Moro trat hinter den Altar und stützte seine fetten Hände auf der zerfurchten Holzplatte ab. Die anderen Männer formierten sich zu einem flachen Halbkreis, fünf an jeder Seite des Propheten. Die Kapuzen hatten sie tief in die Stirn gezogen.
Moro starrte Fraden unbewegt an. Der flackernd rote Feuerschein verlieh dem massigen Gesicht mit den Schweinsäuglein und der winzigen Nase eine aberwitzige Würde.
„Das Universum ist tot“, raunte Moro feierlich. „Es ist ein Ort des Feuers, der Kälte und des willkürlichen Todes. Das Universum hat keine Bedeutung. Es hat keinen Willen.“
„Nur der Mensch hat Bedeutung“, antwortete der Sprechgesang der Brüder. „Nur der Mensch hat einen Willen.“
„Nur im Gegenteiligen liegt die Bedeutung“, fuhr Moro geheimnisvoll fort. „Nur zwischen Gegenteilen kann man eine Wahl treffen. Nur in der Wahl liegt die Bedeutung. Nur in der Bedeutung liegt die Existenz.“
„Der Mensch ist das Maß der Existenz“, ertönte der Singsang der Brüder.
Fraden trat unbeweglich von einem Fuß auf den anderen. Etwas an diesem albernen, schwachsinnigen Ritual beunruhigte ihn zutiefst … Plötzlich wurde er sich darüber klar, was es war: Moro und diese Brüder waren todernst. Sie kosteten jedes Wort bis zur letzten Silbe aus. Das war nicht einfach eine Show, um Fremdlinge zu beeindrucken. Diese Männer waren Fanatiker.
„Ein Leben ohne Existenz ist gar kein Leben. Tiere leben, Menschen existieren. Man muß seine Wahl treffen. Man kann Mensch sein oder Tier. Es gibt nur eine echte Wahl: die Wahl zwischen Tun und Erleiden, zwischen Schmerzen zufügen und Schmerzen empfangen. Schmerz und Vergnügen sind Gegenpole. Das Austeilen des einen heißt das andere empfangen. Tiere erleiden Schmerzen und bereiten so Vergnügen, Menschen teilen Schmerzen aus und werden dafür mit Vergnügen belohnt. Jeder muß seine Wahl treffen.“
„Wähle!“ sangen die Brüder. „Mensch oder Tier? Wähle, wähle!“
„Die Bruderschaft besteht aus Menschen, die ihre Wahl getroffen haben“, verkündete Moro. „Die Bruderschaft des Schmerzes ist eine Bruderschaft von Wesen, die sich für das Menschsein entschieden haben. Die Bruderschaft des Schmerzes besteht aus Menschen, die sich dafür entschieden haben, Schmerzen zu bereiten und so Vergnügen zu empfinden. Die Brüder töten, und so erringen sie das wahre Leben. Diese Zeremonie ist der Akt der großen Wahl.“
„Tier oder Mensch?“ sang der Chor der Verhüllten. „Vergnügen oder Schmerz? Leben oder Tod? Töten oder getötet werden? Wähle! Wähle!“
Fraden begegnete dem Blick von Moros glitzernden Schweinsaugen, die ihn festhielten, wie eine Kobra eine Ratte bannt. „Der Augenblick der großen Wahl ist gekommen,
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