Die Bruderschaft des Schmerzes
zukünftiger Bruder“, sagte er. „Menschen und Tiere kommen in diesen Raum. Solche, die schon gewählt haben, und solche, die noch wählen müssen. Wer an dieser Zeremonie teilhat, der muß die Wahl treffen, ob er zur Brüderschaft gehören will oder ob er als Tier sterben will. Nur die, welche sich für das Töten entscheiden, verlassen lebendig diesen Raum.“
Aus den Falten ihrer Umhänge zogen die Brüder lange, scharfe Messer hervor.
„Die große Wahl!“ rief Moro. „Töten oder getötet werden! Der Augenblick der Entscheidung ist da. Bringt das Menschentier herbei!“
Einer der Brüder steckte das Messer in die Scheide zurück und verschwand hinter den Vorhängen. Einen Augenblick später erschien er wieder. Er trug eine Last, bei deren Anblick Fradens Knie weich wurden und sein Blut zu Eis erstarrte. Nein! Nein! Nein! Nein! schrie es in seinem Kopf. Fradens Hände ballten sich zu Fäusten, die Nägel gruben sich in das weiche Fleisch der Handballen.
Denn das Wesen, das in den Armen des schwarz verhüllten Bruders ruhte, war ein nacktes menschliches Baby.
Der Mann reichte Moro das Kleinkind, der es mit dem Gesicht nach oben auf den furchigen, befleckten Altar legte. Jetzt erkannte Fraden, daß die Furchen von Klingen herrührten und daß die dunklen Flecke getrocknetes Menschenblut waren.
Moro verstand den Ausdruck in Fradens Gesicht nur zu genau. Er hob die Axt vom Altar hoch, drückte sie Fraden in die schlaffe Hand und sagte dabei: „Der Augenblick der Entscheidung. Kein Laut, oder du stirbst. Werde ein Bruder durch den Tod dieses Tieres, oder verschone es und stirb. Du hast die große Wahl, zukünftiger Bruder. Triff sie jetzt, oder wir werden sie für dich treffen.“
Mit diesen Worten nahm Moro das Schwert vom Altar und richtete seine scharfe Spitze gegen Fradens Adamsapfel. Die Brüder umringten ihn mit gezogenen Messern und lüsternen Mienen.
Fraden starrte steif auf das reglose Gesicht des Babys hinab, dem man offensichtlich ein Betäubungsmittel gegeben hatte. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nicht sprechen. Die Axt in seiner Hand erzitterte wie ein lebendes Wesen. Er sah auf in die erwartungsvollen Fratzen der Brüder, sah, wie Moro seinen ganzen massigen Körper hinter das Schwert brachte, bereit, ja begierig, zuzustoßen.
Er verschloß seine Augen vor dem Unerträglichen. Über diese Entscheidung nur nachzudenken war bereits unmöglich. Ein Baby zu ermorden … Nein! Nein! Da war es besser, selbst zu sterben. Die Macht über diese unmögliche Entscheidung in fremde Hände zu legen, besser zu …
„Jetzt!“ befahl Moro. „Jetzt wähle oder stirb! Töten oder getötet werden. Jetzt!“
Fraden hatte die Augen noch immer geschlossen. Jetzt spürte er, wie sich die Klinge ein wenig nach vorn bewegte. Der Druck erhöhte sich. Die gespannte Haut über seinem Kehlkopf riß auf, ein dünner Blutfaden rann seinen Hals hinab …
Der Augenblick wurde zur Ewigkeit. Sein Echo hallte von der Vergangenheit in die Zukunft. Bart Fraden, der eine Revolution angeführt und eine Konterrevolution bekämpft hatte, der gerade einen neuen, blutigen Aufruhr plante, hatte noch nie mit eigener Hand getötet. Er war noch nie mit einem solchen Ereignis konfrontiert worden, mußte noch niemals so tief in sich selbst hineinversinken. Töten oder getötet werden. Mit einemmal war das kein abstraktes Problem einer Moralphilosophie mehr; jetzt war es eine Axt in seiner Hand und ein Schwert an seiner Kehle. Vor seinem geistigen Auge erschien ein Bild der unmittelbaren Zukunft: der blutige kleine Körper, der abgetrennte Kopf. Das Blut, das Blut, das Blut … Er konnte es nicht tun. Er würde es nicht tun!
Doch die Vision verkehrte sich in ihr Gegenteil. Er sah sich selbst, ein Schwert durchbohrte seine Kehle, blutgetränkte Fleisch-und Knorpelfetzen hingen aus dem Loch auf jeder Seite des Halses. Er fühlte den reißenden, schrecklichen Schmerz, fühlte, wie Schwindel und Dunkelheit ihn umfingen, während sein nach Sauerstoffdürstendes Gehirn erlosch. In diesem schrecklichen Augenblick sah Bart Fraden seinen eigenen Tod, und aus den Tiefen seiner Seele, seiner Muskeln, seines Herzens, seiner Gedärme stieg wie ein Krampf die Weigerung in ihm auf … Nein! Nein! Nein! Nicht ich!
Der Krampf raste sein Nervensystem entlang. Die Muskeln in seinem Arm zogen sich unkontrolliert zusammen. Die Axt in seiner Hand beschrieb einen weiten Bogen. Ein leiser, schriller Schrei war zu hören, ein widerwärtiger Ruck,
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