Die Bruderschaft
während er in Wirklichkeit bloß vermeiden wollte, mit jemandem sprechen zu müssen. Niemand sollte sehen, dass er schon wieder ins Postamt ging.
Im Postfach war ein Brief. Einer von diesen Briefen. Sein Mund stand offen und seine Hand erstarrte in der Bewegung, als er ihn dort zwischen den Reklamesendungen liegen sah, unschuldig, als wäre er der Brief eines alten Freundes. Quince warf einen Blick über seine Schulter - der schuldbewusste Dieb -, riss den Brief aus dem Postfach und stopfte ihn in die Brusttasche seines Mantels.
Seine Frau war im Krankenhaus, wo sie ein Fest zugunsten behinderter Kinder plante, und so war das Haus leer bis auf das Dienstmädchen, das den Tag in der Waschküche verschlief - es hatte ja auch seit acht Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen. Er fuhr in gemächlichem Tempo, kämpfte sich durch Schneegestöber und Verwehungen, verfluchte den Erpresser, der sich in der Verkleidung eines liebebedürftigen Jungen in sein Leben geschlichen hatte, und dachte mit düsteren Vorahnungen an den Brief, der ihm mit jeder Minute schwerer auf dem Herzen lag. Keine Spur von dem Hausmädchen, als er die Haustür öffnete und dabei so viel Lärm wie möglich machte. Er ging hinauf in sein Schlafzimmer und schloss die Tür ab. Unter der Matratze lag eine Pistole. Er warf Mantel, Handschuhe und Jackett auf einen Sessel, setzte sich auf die Bettkante und betrachtete den Umschlag. Dasselbe lavendelfarbene Papier, dieselbe Handschrift - alles wie zuvor. Der Brief war vor zwei Tagen in Jacksonville abgestempelt worden. Quince riss den Umschlag auf. Er enthielt nur einen Briefbogen.
Lieber Quince!
Vielen Dank für das Geld. Ich habe es meiner Frau und meinen Kindern geschickt -nur damit du nicht denkst, dass ich ein gemeiner Verbrecher bin. Es geht ihnen sehr schlecht. Seit ich eingesperrt bin, sind sie völlig verzweifelt. Meine Frau hat schwere Depressionen und kann nicht arbeiten, und wenn es keine Sozialhilfe und keine Lebensmittelmarken gäbe, müssten meine vier Kinder verhungern.
(Mit 100000 Dollar müssten sie eigentlich aus dem Gröbsten raus sein, dachte Quince.)
Sie leben in einer Sozialwohnung und haben kein verlässliches Transportmittel. Also nochmals vielen Dank für deine Hilfe. Mit weiteren 50000 Dollar wären sie schuldenfrei, und meine Kinder könnten studieren.
Es gelten dieselben Regeln wie beim ersten Mal. Du überweist das Geld auf dasselbe Konto und mein Versprechen gilt ebenfalls noch: Wenn das Geld nicht schnell eintrifft, werde ich deine geheimen Wünsche publik machen. Verlier keine Zeit, Quince. Ich schwöre, dass dies mein letzter Brief ist.
Nochmals vielen Dank, Quince!
Alles Liebe, Ricky
Er ging ins Badezimmer, öffnete das Medizinschränkchen und fand die Valiumtabletten seiner Frau. Er nahm zwei und erwog kurz, den ganzen Inhalt des Fläschchens zu schlucken. Er musste sich hinlegen, doch er konnte das Bett nicht benutzen, denn er würde es zerwühlen, und dann würde irgendjemand Fragen stellen. Also streckte er sich auf dem Boden aus, auf dem abgetretenen, aber sauberen Teppich, und wartete darauf, dass die Tabletten wirkten.
Er hatte alles zusammengekratzt, er hatte gebettelt und sogar ein bisschen gelogen, um Ricky die 100000 Dollar schicken zu können. Er konnte unmöglich weitere 50000 aufbringen - sein Überziehungskredit war beinahe ausgereizt und er befand sich am Rande der Insolvenz. Auf seinem schönen, großen Haus lag eine dicke Hypothek, ausgestellt von seinem Vater, der auch seine Gehaltsschecks unterschrieb. Sein Wagen war groß und importiert, aber uralt und kaum noch etwas wert. Wer in Bakers, lowa, würde schon einen elf Jahre alten Mercedes kaufen wollen?
Und wenn es ihm irgendwie gelang, das Geld zu stehlen? Der Verbrecher, der sich Ricky nannte, würde ihm herzlich danken und einfach mehr fordern.
Es war vorbei.
Zeit für die Tabletten. Zeit für die Pistole.
Das Telefon schreckte ihn auf. Ohne nachzudenken, rappelte er sich auf und griff nach dem Hörer. »Hallo?« grunzte er.
»Wo zum Teufel steckst du?« Es war sein Vater und er sprach in einem Ton, den Quince nur zu gut kannte.
»Ich, äh, ich fühle mich nicht wohl«, brachte er heraus. Er starrte auf seine Uhr und ihm fiel ein, dass er um halb elf eine Verabredung mit einem sehr wichtigen Inspektor von der Bankenaufsicht hatte.
»Ob du dich wohl fühlst oder nicht, ist mir völlig gleichgültig. Mr. Colthurst von der Bankenaufsicht wartet bereits seit einer Viertelstunde in
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