Die Bruderschaft
die Befindlichkeit der Nation. Der IVR ließ fünfzehn Stunden täglich Umfragen vornehmen. Wenn die Arbeiter in West-Pennsylvania der Schuh drückte, wusste der IVR davon. Wenn der hispanische Bevölkerungsanteil in Houston mit der neuen Sozialpolitik einverstanden war, dann wusste der IVR auch dies. Und wenn Frauen in Chicago eine von Lakes Anzeigen mochten oder nicht mochten, dann wusste der
IVR, warum, und kannte die prozentuale Verteilung von Zustimmung und Ablehnung. »Wir wissen Bescheid«, prahlte sie. »Wir sind wie der Große Bruder: Wir sehen alles.«
Die Umfragen kosteten 60000 Dollar pro Tag - das war fast geschenkt. Niemand sonst war auch nur annähernd so gut informiert. In den wichtigen Fragen war die Zustimmung für Lake in Texas um neun Prozent höher als für Tarry. In Florida, einem Staat, den Lake noch besuchen würde, lagen die beiden gleichauf, und in Indiana, dem Heimatstaat des Gouverneurs, war Tarrys Vorsprung auf wenige Prozentpunkte zusammengeschmolzen.
»Tarry ist ausgebrannt«, sagte Tyner. »Die Moral ist auf einem Tiefpunkt. Er hat in New Hampshire gewonnen, und das Geld floss in seine Richtung. Dann kommen Sie aus dem Nichts, ein neues Gesicht, unbelastet, mit einer neuen Botschaft, und fangen an zu gewinnen - und auf einmal stopfen alle das Geld in Ihre Taschen. Tarry kriegt nicht mal mehr 50 Dollar bei einem kirchlichen Wohltätigkeitsfest zusammen. Er verliert entscheidende Leute, weil er sie nicht mehr bezahlen kann und weil sie ahnen, dass ein anderer gewinnen wird.«
Lake kaute auf einem Stück Ananas und lauschte ihren Worten. Die Aussage war nicht neu - er hatte sie bereits des Öfteren von seinen eigenen Leuten gehört -, aber aus dem Mund einer mit allen Wassern gewaschenen Insiderin klangen sie noch beruhigender.
»Wie sind die Werte des Vizepräsidenten?« fragte er. Er kannte die Umfrageergebnisse, die seine Leute ihm vorgelegt hatten, doch aus irgendeinem Grund hatte er mehr Vertrauen zu Tyner.
»Er wird die Nominierung mit knapper Mehrheit kriegen«, antwortete sie und sagte ihm damit nichts Neues. »Aber der Parteitag wird ein blutiges Gemetzel werden. Im Augenblick liegen Sie in der wichtigsten Frage nur ein paar Prozent hinter ihm: Wen wird das Volk im November zum Präsidenten wählen?«
»Bis zum November ist noch viel Zeit.«
»Das stimmt und stimmt nicht.«
»Es kann sich noch alles Mögliche ändern«, sagte er. Er dachte an Teddy und fragte sich, wie die Krise aussehen würde, mit der er den Amerikanern Angst machen wollte.
Das Abendessen mit Tyner war kaum mehr als ein Imbiss. Von Mortimer’s fuhr Lake zum Hay-Adams Hotel, wo er in einem kleinen Speisesaal mit zwei Dutzend seiner Kollegen aus dem Repräsentantenhaus ein ausgedehntes, spätes Abendessen einnahm Nur wenige von ihnen hatten seine Kandidatur befürwortet, als er seinen Entschluss bekannt gegeben hatte, doch nun waren sie regelrecht begeistert von ihm. Die meisten hatten eigene Umfragen in Auftrag gegeben. Die Welle rollte.
Lake hatte seine alten Freunde noch nie so froh gesehen, in seiner Nähe sein zu dürfen.
Der Brief wurde in der Abteilung Dokumente geschrieben, und zwar von einer Frau namens Bruce, die zu den drei besten Fälschern der CIA gehörte. An der Pinnwand über dem Tisch in ihrem kleinen Arbeitszimmer hingen die Kopien der Briefe, die Ricky geschrieben hatte. Ausgezeichnete Vorlagen, viel mehr, als sie brauchte. Sie hatte keine Ahnung, wer Ricky war, aber es war deutlich, dass er seine Handschrift verstellte. Sie war ziemlich gleichmäßig, und die neueren Briefe verrieten eine Flüssigkeit, die nur der Übung zu verdanken war. Sein Wortschatz war nicht bemerkenswert, doch wahrscheinlich hatte der Verfasser sich zurückgehalten. Er machte nur wenige syntaktische Fehler. Bruce nahm an, dass er zwischen vierzig und sechzig Jahre alt war und mindestens ein College-Studium absolviert hatte.
Aber derlei Rückschlüsse gehörten nicht zu ihrem Job, wenigstens nicht in diesem Fall. Mit dem gleichen Stift und auf dem gleichen Papier wie Ricky schrieb sie ein kleines Briefchen an AI. Wer den Text entworfen hatte, wusste sie nicht. Es war ihr auch egal.
Er lautete: »Hallo, AI! Was machst du so? Warum schreibst du nicht? Vergiss mich nicht.« Diese Art von Brief eben, aber mit einer netten kleinen Überraschung. Da Ricky nicht telefonieren konnte, schickte er AI eine Kassette mit den neuesten Nachrichten aus der Drogenklinik.
Bruce schrieb den Brief und arbeitete dann eine
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