Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
um jeden Reiter bildete sich eine Traube Kinder, außer um Elena. Sie hatten Angst vor ihr, vor der Hexe aus einem fremden Land. Es machte sie traurig, immer noch.
Elena war eine hervorragende Heilerin und hatte in Forensa schon viele Wunden verschlossen, Geschwüre geheilt und gebrochene Knochen gerichtet, aber es war eine anstrengende Arbeit, und es gab immer zu viel zu tun. Nie verlangte sie einen anderen Lohn als ein paar neue Worte, und es kam ihr vor, als würde die Leute das freuen: zumindest ein kleiner Sieg für Verständnis und Verständigung. In Yuros galten die Kräfte der Magi als etwas Gutes, als Geschenk Kores, aber hier in Antiopia hielten alle, selbst die Rimonier, ihre Fähigkeiten für ein Werk der Dämonen.
Sie seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch das verfilzte Haar. Das ständige Warten darauf, dass irgendetwas in Flammen aufging, zehrte an ihr. Sie musste sich waschen und vor allem schlafen. Was Gurvon wohl gerade macht? Und was hat er Samir erzählt? Was geht in Brochena vor? Es war vor allem dieses Nichtwissen, das an ihr nagte.
Der Tross schlängelte sich durch die Straßen des alten Marktes, vorbei am Palast des Emirs und dann auf den Festungshügel der Nesti hinauf. Krak al-Faradas baufällige Kuppeltürme waren durch zinnenbewehrte Verteidigungsplattformen mit Speerschleudern ersetzt worden, die Mauern verstärkt und teilweise erneuert. Zwischen den violetten Bannern spähten bewaffnete Wachsoldaten zu ihnen hinunter, dann erschallten die Trompeten, um die Karawane zu begrüßen.
Paolo Castellini erwartete sie bereits. Er galt als der größte Mann in ganz Javon. Er hatte breite Schultern, einen strähnigen Schnauzbart, grau meliertes Haar und schwermütige Augen. Er öffnete persönlich die Tür der königlichen Kutsche. Fadah stieg als Erste aus. Sie erwiderte Paolos würdevolle Verbeugung, dann scheuchte sie die Kinder die Treppe hinauf. Sie konnte es kaum erwarten, endlich ihre Schwester Homeirah zu sehen.
Paolo wandte sich Elena zu und nickte nur knapp.
Er traut mir immer noch nicht. Elena stieg ab. Ihre Beine taten entsetzlich weh.
Lorenzo dirigierte seine Männer bereits zu den Ställen. Jeder war froh, dass sie endlich angekommen waren, selbst Samir, der einem Diener die Zügel seines Pferdes zuwarf und dann der königlichen Familie in die Festung hineinfolgte.
Als er verschwand, überkam Elena eine dunkle Vorahnung. Sie musste handeln. Sie erwiderte Paolos Nicken, dann rannte sie die Stufen hinauf. Als sie hörte, dass jemand ihr folgte, blickte sie sich um: Es war Lorenzo, der genauso angespannt aussah wie sie selbst. »Hab immer einen Plan«, hatte Gurvon stets gesagt. Nun, sie hatte einen Plan: Magi mit einer starken Affinität waren weniger vielseitig, und sie hatte Samir nun vier Jahre lang aus nächster Nähe beobachten können. Es war erschreckend, wie gut er die Feuergnosis beherrschte. Auch mit Erde und Luft konnte er einiges anfangen, aber sein Repertoire war begrenzt. Er verließ sich stets darauf, seine Gegner mit einem einzigen Flammenstrahl einzuäschern. Wenn er Elena mit einem Volltreffer erwischte, würde sie die letzten Sekunden ihres Lebens in unsäglichem Schmerz verbringen, das Fleisch würde ihr von den Knochen brennen, selbst wenn sie ihre stärksten Schilde aufbrachte. Wenn sie das jedoch vermeiden konnte, hatte sie vielleicht eine Chance.
Samir war gerade eine halbe Minute lang weg. Elena hastete an den Wachen vorbei, Lorenzo folgte ihr mit klapperndem Schwert. Sie stürmten in die Vorhalle, von der aus zwei Treppen vier Stockwerke hoch nach oben führten. An den mit Schnitzereien verzierten Teakholzwänden hingen Wandteppiche und Gemälde, Marmorstatuen standen Spalier. Die Doppeltür zum großen Innenhof auf der gegenüberliegenden Seite stand offen. Bittsteller und Untertanen, die Genesungswünsche überbrachten, tummelten sich dort, mindestens hundert an der Zahl. Nervös blickte Elena sich um: keine Spur von Samir oder den Nesti.
Von oben war ein leises Kichern zu hören. Samir lehnte an der Balustrade und ließ die Fingergelenke knacken. Er lächelte verächtlich. Es wird keine Vorwarnung geben , sagte sein Lächeln. Keine Warnung, nichts .
Es gab keine Vorwarnung.
Elena stand noch vor dem Morgengrauen auf. Sie war erschöpft, weil sie schlecht geträumt hatte. Leise schlich sie von ihrem kleinen Zimmer im Wohnflügel der Kinder nach unten, nur mit einem Nachthemd bekleidet. Sie hatte sich ihre beste Tunika unter den Arm geklemmt,
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