Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
widersprach Alaron. »Sie ist eine lebende Heilige. Alle lieben sie.«
»Ich bin immer wieder erstaunt, wie naiv du bist. Die Revolte liegt gerade mal ein paar Jahre zurück, und trotzdem glaubt ihr Norer diesen Unsinn. Eine lebende Heilige, pah! Wir Silacier können uns noch gut erinnern, wie Lucia Fasterius ihren Mann umgebracht hat, um die Erbfolge über den Haufen zu werfen, damit ihr Hätschelsohn den Thron besteigen und sie das Szepter übernehmen kann. In Rimoni haben wir anscheinend ein besseres Gedächtnis.« Er tippte sich an die Schläfe. »Ganz in der Nähe meines Dorfes gibt es ein Tal, wo ein Feuermagus einen rimonischen Zenturio und seine Männer die Bäume hochgescheucht und dann bei lebendigem Leib verbrannt hat. Die Erde dort ist immer noch schwarz. Es gibt zwar eine Kore-Kirche in meinem Dorf, aber in den Wäldern leben immer noch Sollan-Druis, die die alten heiligen Stätten in Ehren halten.«
»Trotzdem eine beachtliche Leistung«, überlegte Alaron, »mit nur dreihundert Magi den gesamten Kontinent zu erobern.«
»Dreihundert Aszendenten«, berichtigte Ramon. »Genug, um selbst die Sonne einzuäschern! Vergiss nicht, die rimonischen Legionen hatten damals keine Kavallerie und auch keine Bogenschützen. Nur Speere. Keine besonders wirkungsvolle Waffe gegen Aszendenten, die fünfzig Ellen über ihren Köpfen durch die Luft sausen. Wie auf der Truthahnjagd muss das für die Rondelmarer gewesen sein. Heute haben wir bessere Rüstungen, bessere Waffen und bessere Taktik. Und die Aszendenten sind alle tot oder senil oder sabbernde Trinker.«
Alaron warf die Hände in die Luft. »Hättest du das mal im Unterricht gesagt! Kannst du dir Frau Magister Yunes Gesicht vorstellen? Das alte Schlachtross wäre lila angelaufen vor Wut.«
»Ich wollte nicht vor den Abschlussprüfungen rausgeworfen werden«, erwiderte Ramon schniefend.
»Nächste Woche ist alles vorbei«, sagte Alaron mit einem Grinsen. »Schulabschluss. Ich kann’s kaum erwarten!«
»Si, das ist das Einzige, was mich hier noch hält. Sobald ich mein Amulett habe, ziehe ich dankbar von dannen. Und selbst wenn sie mir keins geben, werde ich mir irgendwie eins beschaffen. In Silacia kriegt man alles.«
»Aber wenn du keinen Abschluss hast, werden sie dir nie die Erlaubnis geben, die Gnosis zu benutzen!«
»Wie sollten sie es denn erfahren? In meinem Dorf hat sich noch nie ein Rondelmarer blicken lassen. Sie leben alle in ihren Kasernen, und die nächste ist vierzig Meilen von meinem Dorf entfernt. Es gibt so wenige rimonische Magi – selbst wenn ich den Abschluss nicht schaffe, werden sie mich zu Hause behandeln wie einen König.« Er sah Alaron an. »Was ist mit dir, Amiki? Wirst du ein braver Sohn sein, Gina heiraten und für deinen Vater arbeiten?«
Alaron seufzte. »Weiß noch nicht. Vielleicht konnte ich auf einen der Rekruteure Eindruck machen. Meine Tante Elena war bei den Volsai. Vielleicht nehmen sie mich ja auch.«
Ramon rümpfte die Nase. »Zu diesen Bastido willst du nicht gehören, Al. Es gibt nur eins, was wir mehr hassen als eine Legion Schlachtmagi, und das ist ein hinterhältiger Volsai, der Geheimnisse ausspioniert und Leute ans Messer liefert, sie foltert und erpresst. Wenn diese Drecksäcke dich anwerben wollen, sagst du ihnen gefälligst, wo sie sich ihr Angebot hinschieben können.«
»Tante Elena war nie so … Sie war bei den Grauen Füchsen.«
»Dann ist sie die einzige ehrenhafte Volsai der Geschichte.«
Sie erreichten die Wälder um Teslas Landhaus. Alaron war dort geboren worden, hatte die ersten acht Jahre seines Lebens hier verbracht, großgezogen von einem Kindermädchen und dann einem Privatlehrer, während sein Vater als Händler in der Welt unterwegs war. Seine Mutter hatte die meiste Zeit im Bett oder in einem speziellen Sessel verbracht. Sie hatte ständig Schmerzen wegen ihrer schlecht verheilten Verletzungen. Ihr Gesicht war gezeichnet, die vernarbten Hände sahen aus wie die Klauen eines Geiers. Die ausgebrannten Augenhöhlen waren leer, dennoch konnte sie mithilfe der Gnosis sehen. Für Alaron war es immer ein beunruhigender Anblick gewesen, wenn die dunklen Höhlen seinen Bewegungen folgten.
Die Ehe seiner Eltern war nach und nach zerrüttet. Vann erzählte oft davon, was für ein lebensfrohes, strahlendes Mädchen Tesla in jungen Jahren gewesen war, als er sich in sie verliebt hatte, obwohl sie ein Magus war und er nur Soldat, Hauptmann ihrer Schutzeinheit. Der Kriegszug hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher