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Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Titel: Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Hair
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körperlich und seelisch grausam verstümmelt, aber Vann war bei ihr geblieben, und kurz nach der Hochzeit war Alaron zur Welt gekommen. Eine Zeit lang waren sie beinahe glücklich gewesen, dann hatte Tesla begonnen, sich zurückzuziehen, gepeinigt von ihren innerlichen und äußerlichen Verletzungen. Oft wachte das ganze Haus nachts von ihren Schreien auf, wenn sie, mal wieder von Albträumen geplagt, versehentlich das Bett in Brand gesteckt hatte. Während der Tagesstunden war sie schwermütig und verbittert und ließ ihre Launen vor allem an Vann aus. Alaron hatte das Gefühl, dass sie versuchte, ihn loszuwerden. Trotz allem, was er für sie getan hatte. Er verstand ihr Verhalten nicht, genauso wenig wie Vann es verstand. Als er es nicht mehr ertrug, war sein Vater mit Alaron in das Haus in Norostein umgezogen. Tesla hatte er das Landhaus samt Dienerschaft überlassen, damit jemand sich um sie kümmerte. Er bezahlte für alles, und Tante Elena schickte ebenfalls Geld, wann immer sie konnte. Manchmal glaubte Alaron, sein Vater habe sich nie verziehen, dass er damals gegangen war.
    Alaron hatte seine Tante nur ein paarmal gesehen. Sie war eine strenge Frau mit hartem Gesicht und dem Körper einer Tänzerin. Beim letzten Mal hatte sie ihn ausgiebig nach seinen Fähigkeiten befragt, sich mit ausdruckslosem Gesicht seine Meinung zur Ungerechtigkeit der Welt angehört und schließlich das Interesse verloren. Auch mit Vann verband sie nicht gerade innige Freundschaft: Alaron hatte gehört, wie sie oft stritten, nachdem er ins Bett geschickt worden war. Er hatte sie seit Jahren nicht gesehen, aber wenigstens schickte sie immer noch Geld.
    Der Wald war nasskalt und zugewachsen, die Bäume von Ranken und Efeu überwuchert. Die einzigen Vögel, die zu hören waren, waren Krähen, deren raues Gekrächze den beiden Jungen aufs Gemüt schlug. Dann kam plötzlich hinter den Bäumen das Haus in Sicht, erstrahlte in all seinem heruntergekommenen Glanz. Die Wiesen davor hatten sich in von Eis überfrorene Moosmatten verwandelt, der Teich war schwarz. Die Fensterläden waren kaputt, Dachschindeln fehlten, auf den verwitterten Mauern wuchs der Schimmel. Das ganze Gebäude sah aus, als würde es langsam, aber sicher in sich zusammenfallen. Aus einem einzigen der vielen Kamine stieg ein dünnes Rauchfähnchen, blaugrau vor einem gleichgültigen Himmel.
    »Schau, da ist Gredken.« Alaron deutete auf Teslas Haushälterin, sein ehemaliges Kindermädchen.
    Sie war in eine ausgebleichte, schmutzig rote Decke gehüllt und trug einen Stapel Brennholz auf den Armen. Ihr Haar war so weiß wie der Raureif auf den Scheiten.
    »Meister Alaron«, schnaufte sie. »Kommt herein, kommt herein. Ich werde gleich nach dem Ofen sehen.«
    Nachdem sie die Pferde an dem alten steinernen Wassertrog festgemacht und ein Loch in die Eisdecke geschlagen hatten, gab Alaron Gredken eine kurze Umarmung. Ramon bot an, die Pferde abzutrocknen, während Alaron Gredken mit dem Feuerholz half. Sie muss mittlerweile mindestens sechzig sein , dachte Alaron mit einem Schaudern. Gredken war nicht gut gealtert in den letzten Jahren.
    Seine Mutter saß in der Wohnstube in ihrem alten Schaukelstuhl, eine Decke über sich gebreitet. Als sie hörte, wie die Tür aufging, zuckte sie zusammen. Alaron hatte einmal ein Porträt in Öl von ihr gesehen, angefertigt, bevor sie nach Hebusal gegangen war. Eine rothaarige Schönheit war sie gewesen, sprühend vor Leben wie ein Rotkehlchen, das durch einen Sommerwald flattert. Jetzt war ihr Haar grau, das augenlose Gesicht eine Fratze.
    »Ich bin’s, Mam.« Er ging zu dem Schaukelstuhl und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie roch nach Einsamkeit und Alter. Eilig richtete Alaron sich auf und suchte sich eine Sitzgelegenheit.
    »Ist dir tatsächlich mal wieder eingefallen, dass du auch noch eine Mutter hast, wie?« Ihre Stimme rumpelte wie Mühlsteine.
    »Du weißt, dass ich meine Abschlussprüfungen hatte, Mutter. Bis letzte Woche.«
    »Ach so?«, erwiderte sie ohne großes Interesse. »Dann bist du jetzt erwachsen, was? Gehst nach Süden zu den Kopftuchträgern, hm?«
    »Ich weiß es noch nicht. Vater möchte, dass ich in sein Geschäft einsteige.«
    »Immer noch besser als der Krieg, Junge. Ich werd’s wohl wissen, meinst du nicht?« Sie ballte die verstümmelten Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Die Heiler hatten versucht, sie wiederherzustellen – mit wenig Erfolg.
    »Alle gehen …«
    »Dann lass sie gehen, die Narren.

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