Die Brücke
Traum
ist.«
»Es ist alles nur ein böser Traum.«
»Wirklich?«
»Teufel, nein, es ist wahr! Ich habe nur gesagt, was du
hören wolltest.«
»Diese Idioten!« ereiferte er sich Stewart
gegenüber. »Noch einmal vier Jahre mit diesem Popanz an der
Spitze! Ein seniler Clown, umgeben von einer Bande fremdenfeindlicher
Reaktionäre!«
»Ungewählter fremdenfeindlicher Reaktionäre«,
korrigierte Stewart. Ronald Reagan war soeben für eine weitere
Legislaturperiode gewählt worden. Die Hälfte der Leute, die
ihre Stimmen hätten abgeben können, hatten es nicht
getan.
»Warum bin ich drüben nicht wahlberechtigt?« tobte
er. »Mein Dad wohnt einen Katzensprung von Coulport, Faslane und
dem Heiligen Loch entfernt. Wenn der leberfleckige Finger dieses
Hanswursts den Knopf drückt, ist mein alter Herr tot, sind wir
alle wahrscheinlich tot, du, ich, Andrea, Shona und die Kinder,
jeder, den ich liebe… Also, warum, zum Teufel, bin ich nicht
wahlberechtigt?«
»Keine Annihilierung ohne Volksvertretung«, sagte
Stewart nachdenklich. Dann: »Aber wenn wir gerade von
ungewählten Reaktionären sprechen, was, meinst du, ist das
Politbüro?«
»Verdammt viel verantwortungsbewußter als diese Bande
von Hurra-Quatschköpfen.«
»… Das mag stimmen. Du gibst.«
Das Haus am Moray Place, die Residenz von Mrs. und Ms. Cramond,
war jetzt gut bekannt, besonders zur Zeit der Edinburgher Festspiele.
Man konnte es nicht betreten, ohne über irgendeinen
aufsteigenden Künstler zu stolpern oder eine maßgebende
neue Stimme in der schottischen Belletristik oder ein paar
übellaunige Jungen mit Pickeln, die Synthesizer und
Verstärker von einem Zimmer zum anderen zerrten und die Revox
tagelang ununterbrochen mit Beschlag belegten. Der
Letzte-Chance-Salon, nannte er es. Andrea hatte sich ihr Leben auf
eine Weise eingerichtet, die sie herrlich fand. Sie arbeitete immer
noch in der Buchhandlung, übersetzte russische Bücher,
schrieb Artikel, spielte Klavier, zeichnete und malte, ging auf
Parties, besuchte Freunde, machte Urlaub in Paris, ging mit ihm ins
Kino und in Konzerte und ins Theater und mit ihrer Mutter in die Oper
und ins Ballett.
Eines Tages wartete er auf sie am Flughafen, nachdem sie wieder
einmal einen Ausflug nach Paris gemacht hatte. Selbstbewußt,
erhobenen Hauptes kam sie aus dem Zoll, bekleidet mit einem
breitrandigen, leuchtend roten Hut, leuchtend blauer Jacke, roter
Rock, blauer Strumpfhose und glänzenden roten Lederstiefeln.
Ihre Augen funkelten, ihre Haut leuchtete, ihr Gesicht verzog sich
zum Lächeln, als sie ihn sah. Sie war dreiunddreißig Jahre
alt, und sie hatte nie besser ausgesehen. Er empfand in diesem
Augenblick eine seltsame Mischung von Gefühlen, gewiß
Liebe, aber auch neidvolle Bewunderung. Er beneidete sie, weil sie
glücklich war, weil sie selbstsicher war, weil sie mit den
Ärgernissen und Traumata des Lebens auf ruhige Weise fertig
wurde, weil sie jeden Menschen behandelte wie ein Kind, das eine
Geschichte erfindet, an die es selbst glaubt, nicht von oben herab,
sondern mit einem gespielt ernsten Stirnrunzeln, mit der ihr eigenen
Mischung aus ironischer Distanziertheit und Zuneigung, sogar Liebe.
Seine Gespräche mit dem Rechtsanwalt fielen ihm ein, und er
erkannte etwas von der Persönlichkeit des alten Mannes in
Andrea.
Du kannst dich glücklich preisen, Andrea Cramond, dachte er,
als sie dort in der Wartehalle des Flughafens seinen Arm nahm. Nicht,
weil du mich hast, und bestimmt nicht so glücklich, wie ich mich
auf eine Weise preisen kann, weil ich mehr von deiner Zeit bekomme
als sonst jemand, aber davon abgesehen…
Laß es so bleiben, dachte er. Laß nicht zu, daß
die Idioten die Welt in die Luft jagen, und laß auch sonst
nichts Schreckliches passieren. Ruhig, Kid! Mit wem reden wir hier?
Bald darauf verkaufte er das Motorrad.
Das Leben ging weiter. Lennon wurde erschossen, Dylan wurde fromm.
Er wurde sich nie schlüssig, was von beidem ihn mehr
deprimierte.
In diesem Winter fiel sein Vater und brach sich die Hüfte. Er
sah sehr klein und zart aus, als er ihn im Krankenhaus besuchte, und
viel älter. Im Frühling mußte er sich einer
Bruchoperation unterziehen und fiel von neuem, nicht lange, nachdem
er das Krankenhaus verlassen hatte. Er brach sich ein Bein und ein
Schlüsselbein. »Ich muß mehr Wasser dazu
nehmen«, sagte er zu seinem Sohn und weigerte sich, bei ihm in
Edinburgh zu leben, weil seine Freunde hier waren. Morag und ihr Mann
erboten sich ebenfalls, ihn zu
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