Die Brücke
bekomme ich mit. Wirklich, ich hätte auf
eine Polsterklasse-Tram warten sollen, aber dann wäre ich
vielleicht zu meinem Termin bei Dr. Joyce zu spät gekommen, und
ich halte viel von Pünktlichkeit.
Ich nehme einen Expreßlift zu der Ebene, wo der gute Doktor
seine Praxis hat. Lautsprechermusik spielt, aber wie immer klingt sie
für mich nach einer zufälligen Ansammlung von Tönen
und verworrenen, falsch zusammengefügten Akkorden, als sei die
gesamte Musik auf der Brücke chiffriert worden. Ich habe die
Hoffnung aufgegeben, einmal etwas zu hören, das ich mir merken
oder das ich nachpfeifen kann.
Eine junge Dame teilt auf der größten Strecke des Weges
den Aufzug mit mir. Sie ist dunkel und schlank, und sie blickt
sittsam zu Boden. Ihre Wimpern sind lang und schwarz, und ihre
Wangenlinie ist exquisit. Sie trägt ein gutgeschnittenes
Kostüm mit langem Rock und kurzer Jacke, und ich ertappe mich
dabei, daß ich das Heben und Sinken ihrer Brüste unter
einer weißen Seidenbluse beobachte. Dann verläßt sie
den Lift, ohne mich anzusehen. Ein schwacher Hauch Parfum ist alles,
was zurückbleibt.
Ich konzentriere mich auf eine Fotografie an der dunklen
Holztäfelung neben der Tür. Das Bild ist alt und
sepiabraun. Es zeigt drei der Brückenabschnitte im Bau. Sie
stehen allein, sie sind durch nichts anderes verbunden als ihre
gezackte, unvollständige Gleichartigkeit. Rohre und Träger
stechen heraus, umwunden von Gerüsten. Schwer wirkende
Dampfkräne setzen Tupfen um die braunen Eisenlinien. Die drei
unfertigen Abschnitte sehen beinahe sechseckig aus. Die Fotografie
trägt kein Datum.
Ein Geruch nach Farbe durchdringt die Räume des Doktors. Zwei
Arbeiter in weißen Overalls tragen einen Schreibtisch durch die
Türen herein. Das Empfangszimmer ist leer und bis auf die
weißen Laken, die den Fußboden bedecken, und den
Schreibtisch, den die Arbeiter in die Mitte des Raums stellen. Ich
werfe einen Blick in das Sprechzimmer. Es ist ebenfalls leer, und
auch hier liegen weiße Laken auf dem Boden. Dr. Joyces Name ist
von der Glasfüllung der Tür entfernt worden.
»Was ist geschehen?« frage ich die Arbeiter. Sie sehen
mich verständnislos an.
Wieder der Lift. Meine Hände zittern.
Dankbar stelle ich fest, daß die Empfangstheke der Klinik
nicht entfernt worden ist. Ich muß warten, während ein
junges Paar mit einem kleinen Kind von der Empfangsdame einen langen
Korridor hinuntergewiesen wird. Doch dann bin ich an der Reihe.
»Ich suche nach der Praxis von Dr. Joyce«, sage ich zu
der strengen, stämmigen Frau hinter der Theke. »Er war in
Zimmer 3422; ich war erst gestern bei ihm, aber anscheinend ist er
verlegt worden.«
»Sind Sie ein Patient?«
»Mein Name ist John Orr.« Ich lasse sie die Angaben auf
meinem Armband lesen.
»Einen Augenblick.« Sie hebt den Telefonhörer ab.
Ich sitze auf einer weichen Bank in der Mitte des Empfangsraums, der
von Korridoren umgeben ist; sie strahlen von ihm aus wie Speichen von
einer Nabe. Die kürzeren Korridore führen zur
Außenseite der Brücke. Weiße Gardinen blähen
sich in einer leichten Brise. Die Frau an dem Schreibtisch wird von
einer Stelle zur anderen weiterverbunden. Endlich legt sie den
Hörer hin. »Mr. Orr, Dr. Joyce ist auf Zimmer 3704 verlegt
worden.«
Sie zeichnet mir den Weg zu der neuen Praxis des Doktors auf. In
meiner Brust spüre ich für eine Weile einen dumpfen Schmerz
wie ein rundes Echo.
»Ich soll Sie von Mr. Brooke grüßen.«
Dr. Joyce sieht von seinen Notizen hoch, blinzelt mit seinen
grau-rosa Lidern. Ich habe dem Doktor den Traum von den Galeonen
erzählt, die die Entermannschaften austauschen. Er hat ohne
Kommentar zugehört, gelegentlich genickt, manchmal die Stirn
gerunzelt, sich Notizen gemacht. Das Schweigen schleppt sich hin.
»Mr…?« fragt Dr. Joyce verwundert. Sein dünner
silberner Drehbleistift hängt über dem Notizbuch wie ein
kleiner Dolch.
»Mr. Brooke«, erinnere ich ihn. »Kam ungefähr
zu der gleichen Zeit wie ich aus der Chirurgischen. Ein Ingenieur; er
leidet an Schlaflosigkeit. Sie haben ihn behandelt.«
»Oh«, sagt Dr. Joyce nach einer Pause. »Ja.
Der.« Er beugt sich wieder über seine Notizen.
Dr. Joyces neue Räume sind noch großartiger als seine
vorige Unterbringung. Sie liegen drei Ebenen weiter oben und haben
mehr Quadratmeter Bodenfläche. Der Doktor ist anscheinend dabei,
Karriere zu machen. Jetzt hat er eine Privatsekretärin und einen Empfangschef. Unglücklicherweise hat
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