Die Brücken Der Freiheit: Roman
Vater hatte ein zweites Mal geheiratet, seine erste Liebe aber nie vergessen können. Alicia, die Mutter seines zweiten Sohnes, behandelte er wie eine Mätresse; sie war nur ein Spielzeug für ihn, eine Frau ohne Rang und Rechte, und Jay hatte manchmal das Gefühl, er selber sei nichts weiter als ein illegitimer Sohn. Robert war der Erstgeborene, der Erbe, der Liebling. Es gab Momente, da hätte Jay am liebsten gefragt, ob Robert durch unbefleckte Empfängnis und Jungferngeburt das Licht der Welt erblickt hatte.
Er wandte dem Gemälde den Rücken zu. Ein Diener brachte ihm einen Becher Glühwein. Dankbar schlürfte er ein paar Schlucke und hoffte insgeheim, sie könnten ihn von der nervösen Spannung befreien, die sich in seiner Magengrube breitgemacht hatte. Heute war der Tag, an dem Vater die Entscheidung über sein Erbteil bekanntgeben wollte.
Er wußte, daß er nicht die Hälfte des väterlichen Vermögens bekommen würde, ja, nicht einmal ein Zehntel. Das Gut und die ertragreichen Gruben würde Robert erhalten, ebenso die Handelsflotte, für die er schon jetzt verantwortlich war. Jays Mutter hatte ihrem Sohn geraten, deswegen keinen Streit anzuzetteln; sie wußte, daß Vater einschnappen und dann unversöhnlich sein konnte.
Robert war nicht einfach nur der älteste Sohn. Er war ein Duplikat seines Vaters. Jay war das nicht, und deshalb wollte Vater auch nichts von ihm wissen. Robert war, wie Vater, ein cleverer, aber herzloser und geiziger Mann, Jay dagegen umgänglich und verschwenderisch. Vater haßte Menschen, die zu viel Geld ausgaben; vor allem, wenn es sein eigenes war. Mehr als einmal hatte er Jay angebrüllt: »Ich schwitze Blut und Wasser, um das Geld zu verdienen, das du dann zum Fenster hinauswirfst!«
Erst vor wenigen Monaten hatte Jay die Lage durch Spielschulden in Höhe von neunhundert Pfund noch verschlimmert. Er hatte seine Mutter gebeten, Vater um die Begleichung zu bitten. Es war ein kleines Vermögen, das ausgereicht hätte, Schloß Jamisson zu kaufen, aber Sir George konnte es ohne weiteres verschmerzen. Dennoch hatte er getobt, als wolle man ihm ein Bein abschneiden. Inzwischen waren schon wieder neue Spielschulden aufgelaufen, von denen Vater noch gar nichts wußte.
Mutter riet ihm: »Laß es nicht auf einen Streit mit deinem Vater ankommen, sondern bitte ihn um einen bescheidenen Anteil.« Nachgeborene Söhne gingen oft in die Kolonien, und es bestand durchaus die Chance, daß Vater ihm die Zuckerplantage auf Barbados mit Haus und Negersklaven übereignen würde. Sowohl er als auch seine Mutter hatten Sir George darauf angesprochen, und der hatte zwar nicht ja gesagt, aber auch nicht nein. Jay machte sich nach wie vor große Hoffnungen.
Ein paar Minuten später kehrte sein Vater zurück. Er trat sich den Schnee von den Reitstiefeln und ließ sich von einem Diener aus dem Mantel helfen. »Benachrichtigen Sie sofort Ratchett«, sagte er zu dem Mann. »Ich möchte, daß die Brücke rund um die Uhr von zwei Mann bewacht wird. Wenn McAsh versucht, das Tal zu verlassen, soll er sofort festgenommen werden.«
Es gab nur eine Brücke über den Fluß, doch konnte man das Tal auch noch auf einem anderen Weg verlassen. »Und was ist, wenn McAsh über den Berg geht?« fragte Jay.
»Bei diesem Wetter? Soll er's ruhig versuchen! Sobald wir hören, daß er verschwunden ist, schicken wir auf der Straße eine Patrouille los, um den Berg herum; die wird dafür sorgen, daß der Sheriff und die Soldaten ihn schon erwarten, sobald er drüben auftaucht. Aber ich denke, er wird es gar nicht schaffen.«
Jay war sich da nicht so sicher - diese Bergarbeiter waren zäh wie Hirschleder, und McAsh war ein ganz besonders durchtriebener Bursche - , aber er hütete sich, seinem Vater zu widersprechen.
Lady Hallim traf als nächste ein. Sie hatte dunkles Haar und dunkle Augen wie ihre Tochter, doch nichts von deren Feuer und Temperament. Sie war rundlich und untersetzt, und ihr fleischiges Gesicht war tief gefurcht von Falten, die verrieten, daß sie mit vielem, was sie sah und hörte, nicht einverstanden war.
»Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen?« fragte Jay und half ihr aus dem schweren Pelz. »Kommen Sie ans Feuer, Ihre Hände sind ja ganz kalt! Möchten Sie vielleicht einen Becher Glühwein?«
»O ja, gerne, Jay. Sie sind wirklich ein sehr netter junger Mann!«
Nun kamen auch die anderen Kirchgänger nach Hause. Sie rieben sich die Hände warm, und schmelzender Schnee tropfte aus ihren Kleidern auf den
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