Die Brücken Der Freiheit: Roman
»Er ist tot.«
»Tot?« Jay plumpste vor Schreck auf seinen Sessel zurück. Der Schock saß tief. Vater war doch noch keine Fünfzig! »Wie…?«
»Herzversagen.«
Jay hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sein Vater hatte ihn schlecht behandelt, aber er war eine feste Größe in seinem Leben gewesen, eine dauerhafte, gleichsam unverwüstliche Instanz. Mit einem Schlag war die Welt noch unsicherer geworden. Obwohl er saß, wollte Jay sich irgendwo festhalten.
Er sah seinen Bruder an. Ein unversöhnlicher, triumphierender Zug lag in Roberts Miene. Worüber freut der sich so, dachte Jay und fragte: »Da ist doch noch etwas anderes, Robert, oder? Warum grinst du so selbstgefällig?«
»Ich bin jetzt dein Gläubiger.«
Jetzt fiel es Jay wie Schuppen von den Augen. Ihm war, als habe er einen Fausthieb in die Magengrube erhalten. »Du Schwein«, flüsterte er.
»Ich erkläre deine Hypothek für verfallen. Die Tabakpflanzung gehört mir. Mit High Glen habe ich es genauso gemacht: Ich habe die Hypotheken aufgekauft und nicht verlängert. Inzwischen gehört es mir.«
Nur mit Mühe brachte Jay eine Antwort hervor: »Du hast das von langer Hand geplant.«
Robert nickte.
Jay kämpfte mit den Tränen. »Ihr wart es, du und Vater…«
»Jawohl.«
»Meine eigene Familie hat mich ruiniert.«
»Du hast dich selber ruiniert - dumm, faul und schwach, wie du bist.«
Jay ignorierte die Beleidigung. Mein eigener Vater hat mich hinterrücks in den Bankrott getrieben, dachte er, und Murchmans Brief mit dem Hypothekenangebot fiel ihm ein. Das Schreiben war bereits wenige Tage nach seiner Ankunft in Virginia bei ihm eingegangen. Vater muß dem Anwalt vorab geschrieben und ihm aufgetragen haben, mir ein entsprechendes Angebot zu unterbreiten… Sir George hatte vorausgesehen, daß die Plantage in finanzielle Schwierigkeiten geraten würde, und war von vornherein darauf aus gewesen, sie Jay wieder abzunehmen. Inzwischen war er tot, doch die Ablehnung und Verachtung, die er seinem zweiten Sohn entgegenbrachte, wirkten über seinen Tod hinaus.
Jay erhob sich langsam und mit großer Mühe, wie ein alter Mann. Robert stand daneben. Er sagte kein Wort, doch sein Blick war voller Hohn und Anmaßung. Murchman besaß immerhin soviel Anstand, den Schuldbewußten zu heucheln. Verlegen huschte er zur Tür und hielt sie für Jay auf. Langsam durchschritt Jay den Flur und betrat kurz darauf die staubige Straße.
Bereits zur Mittagessenszeit war er betrunken.
Er war so sternhagelvoll, daß selbst Mandy, die Bardame, die sich schon fast in ihn verliebt hatte, offensichtlich bereits wieder das Interesse verlor. Der Abend endete in der Bar der Raleigh-Schenke.
Als Jay am nächsten Morgen oben in seinem Zimmer aufwachte, konnte er beim besten Willen nicht mehr sagen, wie er dort hingekommen war. Vermutlich hat Lennox mich raufgebracht, dachte er.
Er überlegte, ob er sich umbringen sollte. Es gab nichts mehr, wofür zu leben sich lohnte: kein Zuhause, keine Zukunft. Kinder hatte er auch nicht. Als Bankrotteur hatte er nicht die geringste Chance, es in Virginia jemals zu Amt und Würden zu bringen, und auch die Rückkehr nach England war ihm versperrt. Seine Frau haßte ihn, und selbst Felia gehörte jetzt seinem Bruder. Die einzige Frage war die, ob er sich eine Kugel in den Kopf jagen oder sich totsaufen sollte.
Es war erst elf Uhr vormittags, und Jay saß schon wieder beim Brandy, als seine Mutter die Schankstube betrat.
Jetzt werde ich wirklich verrückt, dachte Jay, als er Alicia erblickte. Er erhob sich und starrte sie ängstlich an. Wie immer konnte sie seine Gedanken lesen. »Nein, Jay, ich bin kein Gespenst.« Sie küßte ihn und setzte sich.
»Wie hast du mich gefunden?« fragte er, nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
»Ich erkundigte mich in Williamsburg nach deinem Verbleib, und man sagte mir, wo ich dich finden kann. Du mußt jetzt sehr gefaßt sein, denn ich habe eine schlimme Nachricht für dich: Dein Vater ist tot.«
»Ich weiß.«
Nun war es an Alicia, überrascht zu sein. »Woher?«
»Robert ist da.«
»Warum?«
Jay berichtete ihr, was vorgefallen war und daß inzwischen sowohl die Pflanzung als auch High Glen Robert gehörten.
»Ich habe immer befürchtet, daß die beiden irgend so einen Plan aushecken«, bemerkte Alicia bitter.
»Ich bin ruiniert«, sagte Jay. »Ich war drauf und dran, mich umzubringen.«
Ihre Augen weiteten sich. »Dann hat dir Robert offenbar nicht
Weitere Kostenlose Bücher