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Die Brücken Der Freiheit: Roman

Die Brücken Der Freiheit: Roman

Titel: Die Brücken Der Freiheit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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den Hang. Der ihm zugewiesene Hirsch war noch verhältnismäßig jung, sein Geweih noch klein. Die Entfernung betrug ungefähr siebzig Meter. Auch die anderen Hirsche und die Jäger konnte Jay von seiner Warte aus sehen: zu seiner Linken Lizzie, die noch immer in Bewegung war, und ganz rechts außen Henry; Sir George, die Wildhüter mit den Hunden und sein Bruder befanden sich im Gebiet rechts unterhalb von ihm. Robert war vielleicht fünfundzwanzig Meter entfernt und bot ein leichtes Ziel.
    Der Gedanke, daß er drauf und dran war, seinen Bruder umzubringen, ließ einmal mehr seinen Herzschlag stocken. Die Geschichte von Kain und Abel kam ihm in den Sinn. Meine Strafe ist härter, als ich ertragen kann, hatte Kain gesagt… Aber mir geht es ja schon lange so, dachte Jay. Ich halte es nicht länger aus, der überflüssige, ständig übersehene zweite Sohn zu sein, ein sinnloses Leben zu führen, ohne Erbteil, als armer Sohn eines steinreichen Mannes - nein, ich ertrage es nicht länger…
    Jay Jamisson versuchte, den bösen Gedanken zu vertreiben. Er nahm sich sein Gewehr vor, schüttete Pulver in die Zündpfanne neben dem Zündloch, schloß den Deckel und spannte den Hahn. Wenn er abdrückte, würde der Deckel im gleichen Augenblick, in dem der Feuerstein Funken schlug, aufspringen. Das Pulver in der Pfanne würde sich entzünden, die Flamme durch das Zündloch schießen und die größere Pulverladung hinter der Kugel zur Explosion bringen.
    Er drehte sich um und ließ seinen Blick über den Abhang schweifen. Die Hirsche ästen in friedvoller Unwissenheit. Alle Jäger bis auf Lizzie hatten bereits eine Schußposition gefunden. Jay nahm zunächst das für ihn bestimmte Tier ins Visier - doch dann schwenkte er den Gewehrlauf langsam nach rechts, bis er auf Roberts Rücken gerichtet war.
    Ich kann sagen, daß im entscheidenden Moment mein Ellbogen auf einer vereisten Stelle ausgeglitten ist, dachte er. Dadurch habe ich das Gewehr verzogen und durch einen tragischen Zufall meinen Bruder in den Rücken getroffen. Vater wird sich vermutlich denken können, wie es wirklich geschehen ist, aber Gewißheit bekommt er nie. Gut möglich, daß er mit der Zeit seinen Verdacht begräbt und dann mir, seinem einzigen Sohn, all das gibt, was er bis jetzt für Robert reserviert hat…
    Lizzies Schuß sollte das Signal für alle sein. Jay erinnerte sich, daß Hirsche überraschend langsam reagierten. Nach dem ersten Gewehrschuß würden sie alle aufschauen und vier oder fünf Herzschläge wie angefroren stehenbleiben, ehe sich einer von ihnen - und in seinem Gefolge auch die anderen - in Bewegung setzte. Im nächsten Augenblick würden sie alle davonstieben wie ein Vogelschwarm oder eine Fischschule, die zierlichen
    Hufe trommelten dann über den harten Boden, die Toten blieben zurück, und die Verwundeten hinkten hinterher…
    Langsam richtete Jay die Flinte wieder auf den Hirsch. Selbstverständlich würde er seinen Bruder nicht töten. Es wäre eine unglaublich böse, hinterhältige Tat. Das schlechte Gewissen wird mir mein Lebtag lang keine Ruhe mehr lassen, dachte er.
    Und doch… Werde ich es nicht ewig bereuen, wenn ich diese Chance ungenutzt lasse? Wenn Vater Robert neuerlich vorzieht und mich dadurch wieder demütigt, werde ich dann nicht zähneknirschend an diese Minuten hier zurückdenken, an die einmalige Gelegenheit, den verabscheuten Halbbruder ein für allemal vom Antlitz dieser Erde zu tilgen?
    Und wieder richtete sich der Gewehrlauf auf Roberts Rücken.
    Vater respektiert Stärke, Entscheidungskraft und Unbarmherzigkeit. Selbst wenn er hinter dem tödlichen Schuß Absicht vermutet, wird er einsehen müssen, daß ich, Jay Jamisson, ein Mann bin, den zu ignorieren oder zu übersehen entsetzliche Folgen nach sich zieht…
    Diese Überlegung stärkte seine Entschlossenheit. Ja, dachte er, im Grunde seines Herzens wird Vater meine Tat sogar gutheißen. Er selbst würde sich nie so schlecht behandeln lassen. Wenn er etwas für Unrecht hält, reagiert er ebenso brutal wie grausam. Als Richter in London hatte er Dutzende von Männern, Frauen und Kindern nach Old Bailey geschickt. Wenn es rechtens war, ein Kind, das ein Brot gestohlen hat, aufzuhängen - wie konnte es da Unrecht sein, Robert zu erschießen, der seinen Bruder um das angestammte Erbe brachte?
    Lizzie ließ sich Zeit. Jay bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, doch sein Herz klopfte wie rasend, und sein Atem ging stoßweise. Was macht sie nur so lange?

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