Die Brücken Der Freiheit: Roman
Schlaf gut.«
»Gute Nacht, Mutter.«
Nachdenklich starrte Lizzie ins lodernde Feuer. Sie wußte seit Jahren, daß es ihr Schicksal war, das Gut der Familie durch die Heirat mit einem reichen Mann zu retten. Robert war nicht besser und nicht schlechter als alle anderen. Nur hatte sie bisher nicht ernsthaft darüber nachgedacht. Zukunftsplanungen jedweder Art widerstrebten ihr ohnehin. Sie zog es vor, bis zum letzten Augenblick zu warten und dann in letzter Sekunde ihre Entscheidung zu treffen - eine Gewohnheit, die ihre Mutter manchmal zur Weißglut trieb. Die Aussicht, in Kürze verheiratet zu sein, entsetzte sie; sie empfand eine Art physischen Ekel davor, als ob sie versehentlich etwas Angefaultes verschluckt hätte.
Doch was konnte sie tun? Ich kann doch nicht zulassen, daß Mutters Gläubiger uns aus dem Haus werfen, dachte sie. Wo sollen wir dann hin? Wovon sollen wir leben? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken: Sie sah sich und ihre Mutter schon in zwei billigen, kalten Zimmern in einem Edinburgher Mietshaus sitzen, sah sich Bettelbriefe an entfernte Verwandte schreiben und für ein paar Pennys Näharbeiten verrichten. Da war es schon besser, den miesepetrigen Robert zu heiraten. Aber ob ich mich dazu wirklich durchringen kann? fragte sie sich. Bisher war es noch immer so gewesen, daß sie es jedesmal irgendwie geschafft hatte, sich vor der Erfüllung unangenehmer, aber notwendiger Pflichten - wie der Erschießung eines kranken alten Jagdhunds oder dem Kauf von Petticoatstoff - zu drücken. Selbst wenn sie es sich fest vorgenommen hatte, war ihr im letzten Moment immer noch ein Ausweg eingefallen.
Lizzie steckte ihr ungebärdiges Haar auf und legte die gleiche Verkleidung an wie am Abend zuvor: Hose, Reitstiefel, Leinenhemd und Überzieher. Auf den Kopf setzte sie sich einen Männerdreispitz, den sie mit einer Hutnadel befestigte. Mit Ruß aus dem Kamin schwärzte sie ihre Haut. Nur auf die Lockenperücke verzichtete sie diesmal. Zum Schutz gegen die Kälte streifte sie sich Fellhandschuhe über, die den zusätzlichen Vorteil hatten, ihre feinen Hände zu verbergen. Außerdem legte sie ein Schottentuch um, das nicht nur wärmte, sondern auch ihre Schulterpartie breiter erscheinen ließ.
Als es Mitternacht schlug, nahm sie eine Kerze zur Hand und schlich die Treppen hinunter.
Ob Jay sein Wort halten wird, fragte sie sich aufgeregt. Vielleicht ist ihm irgend etwas dazwischengekommen. Kann sogar sein, daß er während des Wartens eingeschlafen ist. Das wäre eine Enttäuschung! Doch die Küchentür war, wie versprochen, unverschlossen, und als sie den Stallhof erreichte, wartete Jay bereits auf sie. Er hielt zwei Ponys am Zügel und sprach beruhigend auf die Tiere ein. Lizzie empfand eine merkwürdige Freude, als Jay sie im Mondlicht anlächelte und ihr wortlos die Zügel des kleineren Pferdes übergab. Dann ging er voraus, und sie folgte ihm. Um die von den großen Schlafzimmern überblickbare Vorderfront zu vermeiden, benutzte er einen schmalen Pfad, der auf der Rückseite des Gebäudes aus dem Hof hinausführte.
Als sie die Straße erreichten, nahm Jay die Hülle von einer Laterne, die er mitgenommen hatte, und sie bestiegen ihre Pferde.
»Ich fürchtete schon, Sie würden nicht kommen«, sagte Jay.
»Und ich fürchtete, Sie könnten vielleicht eingeschlafen sein«, erwiderte Lizzie. Beide mußten sie lachen.
Ihr Weg führte sie talaufwärts zu den Kohlegruben. »Hatten Sie heute nachmittag wieder Streit mit Ihrem Vater?« fragte Lizzie ohne Umschweife.
»Ja.«
Er verzichtete auf die Einzelheiten, doch Lizzies Neugier bedurfte keiner weiteren Aufmunterung. »Worum ging es?«
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, spürte aber, daß ihm die Fragerei unangenehm war. Dennoch antwortete er ihr freundlich: »Immer dasselbe - um meinen Bruder Robert.«
»Meiner Meinung nach sind Sie sehr unfair behandelt worden - wenn Ihnen das ein Trost ist.« »Ja, das tut gut. Ich danke Ihnen.« Er wirkte ein wenig entspannter. Je näher sie den Gruben kamen, desto aufgeregter und neugieriger wurde Lizzie. Ob es stimmt, fragte sie sich, daß es unter Tage zugeht wie in einem Höllenloch? So ähnlich hatte McAsh das ja ausgedrückt. Ist es eiskalt dort unten oder furchtbar heiß? Wie gehen die Menschen miteinander um? Brüllen sie sich dauernd an, und kämpfen sie miteinander wie eingesperrte Wildkatzen? Ob es da unten stinkt? Herrscht vielleicht eine Mäuseplage? Oder ist es totenstill und unheimlich?
Weitere Kostenlose Bücher