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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Ingenieurszeitschrift, die er abonniert hatte, auf seinem Zeichentisch. Unter der Zeitschrift lag noch ein weiterer Brief, ebenfalls in Dresden abgestempelt. Er kannte die eckige, energische Schrift nicht, aber als er den Umschlag umdrehte, konnte kein Zweifel daran bestehen, wer der Absender war. Die Rückseite wies ein goldgeprägtes Monogramm mit einer siebenzackigen goldenen Krone darüber auf. Es war ein Brief von Ingeborgs Vater, Manfred Baron von Freital.
    Sein Kopf schwirrte, was nicht nur dem Whisky geschuldet
war. Welchen Brief sollte er zuerst lesen? Er wählte Ingeborgs und öffnete ihn vorsichtig, da er noch etwas anderes als nur ein paar Briefbögen zu enthalten schien.
    Es handelte sich um eine Fotografie von Ingeborg, eine ungewöhnliche Fotografie, steif und arrangiert, ohne jegliche Fröhlichkeit. Er betrachtete das Bild und überlegte angestrengt, was sie damit bezweckte. Sie trug eine uniformähnliche Jacke, bis zum Hals geknöpft, einen hohen weißen Kragen und eine weiße Fliege. Sittsamer wäre nicht möglich gewesen.
    Und auch nicht aufreizender, dachte er. In ihrem Blick las er so etwas wie provozierende Ironie, als wollte sie sich im nächsten Augenblick die Uniformjacke und weiße Fliege vom Leib reißen. Sie lächelte, als wollte sie ihm sagen, das hier ist deine geliebte Zukünftige, die immer ihren Willen durchsetzt. Denn darum ging es natürlich. Sie war jetzt ausgebildete Krankenschwester und trug eine Schwesternuniform. Ein weiterer Schritt auf ihrem Weg zum Medizinstudium.
    Gerührt legte er das Foto auf seinen Zeichentisch, überlegte es sich dann anders, hob es an die Lippen und küsste es vorsichtig.
    Dann holte er tief Luft und entfaltete ihren Brief. Enttäuscht stellte er fest, dass er viel kürzer war als sonst.
    Dresden, den 2. Juni 1905
    Mein geliebter Lauritz!
    Diesen Brief schreibe ich Dir in großer Eile, weil etwas sehr Ungewöhnliches, um nicht zu sagen Rätselhaftes geschehen ist, das im Augenblick unsere gesamte Konzentration und möglicherweise auch List und Überlegung erfordert.
    Ich habe erfahren, wie, spielt im Augenblick keine Rolle, dass Vater die Absicht hat, Dich zur Kieler Woche auf seine Jacht einzuladen, damit Du bei der Regatta mithilfst. Offenbar habt ihr euch übers Segeln unterhalten. Was auch immer Du ihm über Deine Fähigkeiten erzählt hast, es muss großen Eindruck auf Vater gemacht haben. Entschuldige, Liebster, ich habe gar nicht die Absicht, ironisch zu sein. Vielleicht ist es ja nur die Tatsache, dass Du Norweger bist und damit ein Wikinger, dem das Segeln im Blut liegt. Vater begeistert sich ja, wie Du weißt, wie viele andere in unseren Kreisen für Norwegen.
    Zurück zum Thema. Ich bin heute in meiner sachlichen Laune und fühle mich so, wie ich auf dem Foto aussehe, das ich diesem Brief beilege (gib zu, dass es ein lustiges Foto ist, so hast Du mich noch nie gesehen).
    Ich frage mich, was Vater mit diesem nach außen hin großzügigen Angebot bezweckt, das er einem Mann macht, den er so energisch zurückgewiesen hat. Will er Dich demütigen – und damit auch mich – in einer Situation, von der er vermutet, dass Du sie nicht bewältigst? Dieser Gedanke entspringt der misstrauischen Seite meines Wesens, aber irgendwie kann ich ihn doch nicht glauben. Dass Du nicht segeln kannst und Dich an Bord lächerlich machst? Nein, wieso sollte er, dessen Familie seit siebenhundert Jahren in Sachsen lebt und das Segeln wirklich nicht im Blut hat, glauben, dass Du, der Du am Meer aufgewachsen bist, mit eventuellen Schwierigkeiten in der Kieler Bucht nicht genauso gut fertigwerden würdest wie mit allen anderen Schwierigkeiten?
    Diese Möglichkeit können wir also ausschließen.
    Glaubt er, dass Du bei den steifen Galadiners und ähnlichen Anlässen nicht standesgemäß auftreten und Dich in unseren Kreisen unmöglich machen würdest? Dich also neben diesen Stenzen mit den langen Nachnamen, mit denen er mich während der Kieler Woche stets verkuppeln will, schlecht ausnehmen würdest?
    Vielleicht, aber ich bin mir nicht sicher. Während Deiner Jahre in Dresden boten sich Dir ja, nicht zuletzt durch Deine sportlichen Erfolge und die darauf folgenden Zeremonien und Bankette, vielleicht auch weil Deine Brüder und Du in einem so gediegen bürgerlichen Heim wie dem von Frau Schultze wohntet, reiche völkerkundliche Möglichkeiten, Dir die Sitten der höhergestellten Eingeborenen anzueignen.
    Das wäre ein unlogischer Versuch, Dich zu diskreditieren.

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